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Gut gegen Nordwind

Gut gegen Nordwind

Titel: Gut gegen Nordwind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Glattauer
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untergekommen.
     
    55 Sekunden später
    AW:
    Ich habe im Traum weder Gesicht noch Busen noch sonst etwas Ihnen zugehöriges Körperliches gesehen. Ich habe alles nur gefühlt.
     
    Eineinhalb Minuten später
    RE:
    Wenn Sie nichts von mir gesehen haben, wieso wissen Sie dann, dass ich die Frau war, die Sie da blind abgegrapscht haben?
     
    Eine Minute später
    AW:
    Weil es nur eine gibt, die sich so ausdrückt wie Sie: Sie!
     
    Zweieinhalb Minuten später
    RE:
    Wir haben also geredet, während Sie mich blind abgegrapscht haben?
     
    50 Sekunden später
    AW:
    Ich habe Sie nicht blind abgegrapscht, ich habe Sie gefühlt, das ist ein gravierender Unterschied. Und wir haben (unter anderem auch) geredet.
     
    35 Sekunden später
    RE:
    Hocherotisch!
     
    Eineinhalb Minuten später
    AW:
    Davon verstehen Sie nichts, Emmi. Sie denken sich in solchen Angelegenheiten offenbar zu sehr in »Ihre« Männer hinein.
     
    Zwei Minuten später
    RE:
    Da »meine Männer«, und da – »the one and only« Leo, der Busenerhabene. Mit dieser edlen Differenzierung blenden wir uns für heute aus. Ich muss Schluss machen, habe noch einiges zu erledigen. Ich melde mich morgen. Bis bald, Emmi.
     
    Am nächsten Tag
    Betreff: Treffen
    Also, Leo, treffen wir uns? Ich habe alle Zeit der Welt. Bernhard ist mit den Kindern eine Woche wandern. Ich bin allein.
     
    Fünfeinhalb Stunden später
    RE:
    Hey Leo, hat es Ihnen die Rede verschlagen?
     
    Fünf Minuten später
    AW:
    Nein, Emmi. Ich denke nur nach.
     
    Zehn Minuten später
    RE:
    Das kann nichts Gutes bedeuten. Ich weiß genau, worüber Sie nachdenken. Leo, bitte, treffen wir uns! Versäumen wir nicht den vielleicht letzten sinnvollen Zeitpunkt dafür. Was riskieren Sie dabei? Was haben Sie zu verlieren?
     
    Zwei Minuten später
    AW:
    1.) Sie
    2.) Mich
    3.) Uns
     
    17 Minuten später
    RE:
    Leo, Sie haben panische Berührungsängste. Wir werden uns sehen, und wir werden uns mögen, und wir werden miteinander reden, wie wir immer schon miteinander geredet haben, nur eben mündlich. Wir werden uns vertraut sein von der ersten Minute an. Nach einer Stunde werden wir uns gar nicht mehr vorstellen können, wie es wäre, wenn wir einander noch nie gesehen hätten. Wir werden an einem kleinen Tisch in einem italienischenRestaurant sitzen. Ich werde vor Ihren Augen Spaghetti al Pesto essen. (Dürfen es auch »Vongole« sein?) Und ich werde meinen Kopf zur Seite drehen, sodass ich einen Luftzug erzeuge, den Sie verspüren können, lieber Leo. Endlich ein echter, physischer, befreiender, antivirtueller Luftzug!!!
     
    Eineinhalb Stunden später
    AW:
    Emmi, Sie sind nicht Mia. An Mia hatte ich keine Erwartungen gestellt – und umgekehrt. Mia und ich, wir hatten beim Start begonnen, wie das üblich ist, wenn sich zwei kennen lernen. Anders bei uns, Emmi: Wir starten von der Ziellinie weg, und es gibt nur eine Richtung: zurück. Wir steuern auf die große Ernüchterung zu. Wir können das nicht leben, was wir schreiben. Wir können die vielen Bilder nicht ersetzen, die wir uns voneinander ausmalen. Es wird enttäuschend sein, wenn Sie hinter der Emmi zurückbleiben, die ich kenne. Und Sie werden dahinter zurückbleiben! Sie werden deprimiert sein, wenn ich hinter dem Leo zurückbleibe, den Sie kennen. Und ich werde dahinter zurückbleiben! – Wir werden nach unserem ersten (und einzigen) Treffen ernüchtert auseinander gehen, träge, wie nach einem fetten Mahl, das uns nicht geschmeckt hat, dabei hatten wir uns ein Jahr mit Heißhunger darauf gefreut, hatten es Monate lang köcheln und brodeln lassen. Und dann? – Aus. Schluss. Gegessen. So tun, als wäre nichts gewesen? Emmi, wir haben dann für immer das entmythologisierte, aufgedeckte, entzauberte, enttäuschte, aufgesprungene Spiegelbild des anderen vor Augen. Wir werden nicht mehr wissen, was wir einander schreiben sollen. Wir werden nicht mehr wissen, wozu wir einander schreiben sollen. Und irgendwann später einmal werden wir uns im Kaffeehaus oder in der U-Bahn begegnen. Wir werden versuchen, einander nicht zu erkennen oder einander zu übersehen, wir werden uns schnell voneinander abwenden. Wir werden uns genieren, was aus unserem »uns« geworden ist, was davon geblieben ist. Nichts. Zwei einander fremde Menschenmit einer gemeinsamen Scheinvergangenheit, von der sie sich so lange so schamlos betrügen hatten lassen.
     
    Drei Minuten später
    RE:
    Und täglich sterben Hunderte Tierarten aus.
     
    Eine Minute später
    AW:
    Was soll das

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