Gute Leute: Roman (German Edition)
der sein Verhalten genau vorausgesehen und den Ablauf der Ereignisse orchestriert hatte – der Mann konnte ein gefährlicher Gegner sein.
Von Thadden war bereits bei der Darbietung des ersten Liedes. »Es ruft noch manche Schlacht. Bald ruh ich wohl und schlafe fest, Herzliebste – gute Nacht!« Er endete, und die Menge applaudierte frenetisch. Der Sänger verbeugte sich vor seinem Publikum und bedachte es mit einem fragenden Blick: Habt ihr diese brillante Interpretation auch in all ihren Feinheiten verstanden?
Nun war Wolfgang wieder auf der Bühne und dankte Dr. von Thadden für seine Darbietung von des »Kriegers Ahnung«. Danach holte er ein Blatt aus der Tasche und verlas: »In Tagen wie diesen gilt es, sich der Geschichte des deutschen Volkes zu erinnern, der Wiege unserer jetzigen Größe. Denn sehr wohl gab es Zeiten, in denen die Franzosen unser Land besetzt hielten und wir Not, Schmach und Schwäche kannten. Doch aus dem deutschen Geiste haben sich auch damals schon Stimmen erhoben, die uns eine ruhmreiche Zukunft weissagten. Auf ewig wird Deutschland die klarste, hellste Stimme aus jenen dunklen Tagen, die Stimme Johann Gottlieb Fichtes, bewahren. Während das deutsche Volk noch ächzte, lehrte Fichte unsere Vorväter, an ihre Größe zu glauben …«
Jetzt verlas Wolfgang eine Passage aus Fichtes »Reden an die deutsche Nation«, und Thomas musste zugeben, dass der junge Offizier es trefflich verstand, zwischen dem erforderlichen Pathos und jener unangestrengten Herzlichkeit, wie sie unter engen Bekannten gepflegt wird, die Waage zu halten. Aber wie viel Abstoßendes wohnte ihm und seiner Salbaderei inne. Wie war es möglich, dass er diesem Menschen aufgesessen war?
Die Menge wandte sich zur Getränkebar und zu den Tischen, auf denen Platten mit Käse, Gemüse, Fischdelikatessen und Brot angerichtet waren. Ein leichtes Tröpfeln begann auf die Zeltplane zu trommeln. Insgeheim wünschte Thomas sich Windböen und Regengüsse, die das Zelt mitsamt den Feiernden davonwehen würden.
Zwei der drei jungen Polinnen kamen an ihm vorüber. Sie waren hübsch wie immer, doch hätte er sie gern in weitaus prächtigerer Aufmachung gesehen: Seidenkleider, Fuchsschwanzmäntel, ein Diadem im Haar und um den Hals ein Brillantenkollier. Aus der Nähe schienen ihre schwarzen Kleider aus einfacher Baumwolle, offenbarten ihre durchsichtigen Strümpfe kleine Laufmaschen, und an der Spitze ihre Schuhe war das Leder abgewetzt. Aus dem Schnitt der Kragen schloss er, dass irgendeine Näherin die Modelle aus französischen Magazinen nachgeschneidert hatte. Und das gleißende Licht, das die Beleuchtungsmasten verbreiteten, ließ das Rouge auf den Wangen der jungen Frauen eintrocknen und rissig wirken.
»Meine lieben jungen Damen, wo ist eure dritte Schwester? Ohne sie könnt ihr nicht die Gorgonen sein!«, rief ein stämmiger Offizier unter dem Gelächter seiner Kameraden.
In einer Bewegung fuhren sie zu ihm herum. »Nehmen Sie sich in acht«, antwortete eine von ihnen in gutem Deutsch, aber mit starkem Akzent. »Wenn Sie uns zu lange anschauen, wird aus Ihnen noch ein Nazioffizier.«
Auf einen Schlag trat Stille ein, und Thomas schaute voller Verehrung in ihre grauen Augen. Sollten die Offiziere wagen, sie zu beleidigen oder zu bestrafen, würde er dazwischengehen. Wenn er schon fiele, dann als Held.
Die Offiziere sahen sich an. »Eine wunderbare Idee!«, röhrte einer von ihnen. »Die Gorgo wird noch aus all unseren Feinden gute Nazis machen!«
Alle lachten begeistert.
»Morgen bringt man sie weg, heute heiratet sie«, stieß die Schwester hervor.
»Und euch bringt man nicht weg?«, fragte der joviale Offizier.
»Morgen bringt man sie weg«, wiederholte die Polin.
»Meine Damen, wir werden das nicht zulassen«, rief der Offizier.
»Werden Sie unserer Schwester helfen?«, mischte sich die erste ein. »Morgen bringt man sie weg. Man behandelt sie wie eine schäbige Jüdin, und sie hat nichts getan.«
»Kommt morgen früh in mein Büro«, tönte der Offizier. »In der Zwischenzeit aber vergnügt euch, gleich wird das Tanzbein geschwungen. Ich reserviere mir schon jetzt einen Tanz.«
»Aber morgen bringt man unsere Schwester weg«, sagte die zweite Schwester in kindlichem Erstaunen. Sie mochte höchstens zwanzig sein, dachte Thomas bei sich.
»Dann halt übermorgen«, grölte der Offizier, und seine Freunde lachten abermals.
Die beiden jungen Frauen schenkten dem Offizier noch einen Blick, als wollten sie
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