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Gute Leute: Roman (German Edition)

Gute Leute: Roman (German Edition)

Titel: Gute Leute: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nir Baram
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berichten kann. Unser Gesuch, am Ende des Sommers einander wiedersehen zu dürfen, ist heute endgültig genehmigt worden. Allem Anschein nach werde ich einen ganzen Monat Heimaturlaub erhalten. Überdies, sollten meine Pläne Wirklichkeit werden, können wir uns im nächsten Jahr regelmäßig sehen.«
    Er stellte sich Klarissa vor, wie sie seinen Brief las, wie ihre Finger mit ihrem Haar spielten, wie ihre Augen über die Zeilen huschten und sie bereits nach einem leeren Bogen Schreibpapier Ausschau hielt. Immer schon hatte sie lieber selbst geschrieben als gelesen, hatte in ihren Briefen sogar die Fragen übergangen, die er ihr gestellt hatte.
    Am Abend, beim Verlassen des Büros, wunderte er sich, dass er der letzte war. Die Luft draußen hatte sich merklich abgekühlt. Ständig wurde in seiner Umgebung über die häufigen Schwankungen des Wetters geklagt, und Weller behauptete, einer der Gründe dafür sei, dass viele der repräsentativen Straßen Warschaus nicht vor der Sonne geschützt seien, während die kleinen Straßen durch Bäume, Markisen und Häuserfronten beschattet würden, so dass man schon auf einem kurzen Spaziergang vom Sommer zum Herbst und wieder zurück wechsele.
    Zu seiner Rechten ragte der untere Teil der Ghettomauer auf. In den letzten Tagen war sie, wo immer er sich auch hingewandt hatte, in seinem Blickfeld erschienen, überall stachen ihm ihre roten Backsteine, auch hinter einem Gebäudeensemble oder einer Baumgruppe, in die Augen. Regen setzte jetzt ein, und er trug nur einen leichten Sommeranzug. Hinter ihm pfiff der Wind. Soldaten hielten einzelne Passanten an und kontrollierten ihre Ausweise. Er vergrößerte seine Schritte, denn dieser Anblick machte ihn noch niedergeschlagener. Ein Ausdruck fiel ihm ein, den Frau Stein immer gebraucht hatte, wenn sie nach ihrem Wohlergehen gefragt wurde: »Einerlei.« Abermals beschleunigte er seinen Schritt und lief beinahe die Aleje Jerozolimskie hinunter in Richtung der Nowy Świat, erblickte in seiner Vorstellung bereits das Quartier in der Ferne. Dort würde es hoffentlich noch keine Mauer geben. Ein Soldat mit Regenüberwurf trat ihm in den Weg und bedeutete ihm, stehen zu bleiben.
    »Ich bin Deutscher.«
    »Ausweispapiere, Deutscher!«, bellte der Soldat.
    Er wühlte in seinem Jackett, zog seinen Ausweis hervor und hielt ihn dem Soldaten unter die Nase. »Ich bin Deutscher, haben Sie verstanden? Und ich gedenke nicht, hier im Regen zu stehen wie ein Sklavenarbeiter. Ich werde dafür sorgen, dass man Sie zur Rechenschaft zieht!«
    Der Soldat murmelte: »Das nennen Sie Regen?«, und trat wieder in den Schatten der Hauswand.
    An der Straßenkreuzung sah Thomas nach rechts in Richtung der Nowy Świat, und dort, den ganzen Horizont beherrschend, wand sich abermals die Mauer.
    Er fasste sich und ging mit ausgreifenden Schritten weiter. Eine kleine Menschenmenge drängte sich vor dem Tor ihres Gebäudeensembles, und ihm fiel ein, dass an diesem Abend dort Wolfgangs »Pariser Sause« steigen sollte. Da wollte er nicht in seinem ramponierten Anzug und mit schweißnasser Stirn erscheinen.
    Er drängte sich zwischen den Anwesenden hindurch, stellte erleichtert fest, dass niemand dort war, den er kannte, schritt bedächtig durch den Torgang, um sich in seine Wohnung zu stehlen und Abendgarderobe anzulegen. Zu Ehren des Ereignisses hatte Wolfgang einige Dutzend Anzüge aus einem Kaufhaus beschlagnahmen lassen und sie unter den Bewohnern des Quartiers verteilt. Er wollte rasch den Hof durchqueren und hielt auf das weiße Zelt zu, das mit bunten Bändern und Reichsflaggen geschmückt war.
    »Thomas!..«, begrüßte Wolfgang ihn beschwingt. Er stand am Eingang des Zeltes, strahlend in hellem Smoking, in der Hand ein kleines Tablett mit Champagnergläsern. »Direkt aus der Champagne«, meinte er stolz. »Alle Weine und Käse bei unserer kleinen Feier heute sind aus Frankreich! Meine Kameraden dort haben sich mächtig für uns ins Zeug gelegt.«
    Thomas nahm ein Glas und nippte an dem kühlen Getränk. »Ich gratuliere dir, mein Freund«, nuschelte er.
    Ein verwunderter Blick huschte über Wolfgangs Gesicht, und wie immer, wenn er sich einer Sache nicht sicher war, wölbte sich seine Zungenspitze über seine Vorderzähne. »Du bist der Mann, auf den ich gewartet habe. Heute ist dein großer Abend.«
    »Tatsächlich?«, murmelte Thomas.
    »Ja«, erwiderte Wolfgang großmütig. »Hast du etwa geglaubt, wir würden unsere Schulden nicht begleichen? Würden uns mit

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