Gute Leute: Roman (German Edition)
versunken. Das beinahe einzige Geräusch war das Stapfen ihrer Stiefel im Schnee. Manchmal erklangen auch die Schreie der Offiziere bei Exerzierübungen und das Bellen der Hunde.
Jetzt erwachte Kolja wohl gerade zum Morgenappell. Sicher bekamen sie eine Ration Brot und Tee. Vergingen ihre Tage mit Nichtstun? Wenn Schnee lag, wurden keine Schützengräben ausgehoben. Obgleich er sich weigerte, sie zu sehen, und auch auf ihre Briefe nicht antwortete, bildete sie sich ein, solange sie hier auf ihrem Posten blieb, würde ihm nichts zustoßen. Gestern erst hatte sie dafür gesorgt, dass Kisten mit Wodka und Brot seine Einheit erreichten, auch Fischbüchsen und Bohnen. Dabei hatte sie äußerste Vorsicht walten lassen, damit ihre Kollegen nicht erfuhren, dass Kolja ganz in der Nähe stationiert war, denn dies konnte gegen sie verwendet werden. Jeden Morgen befiel sie die Furcht, Nikita Michailowitsch könnte dahintergekommen sein und sie fragen, warum sie ihm nicht erzählt habe, dass die Kompanie ihres Bruders rings um die Festung stationiert war, um dann wie nebenbei den Vorschlag zu unterbreiten: »Warum sollte Ihr Kolja nicht unser Seksoti in der 4. Armee werden? Wir sind immer auf der Suche nach guten Informanten in den Reihen der Armee.« Vielleicht aber war auch dies bloß ein weiteres Stockwerk im stetig höher werdenden Turm ihrer Paranoia.
Sie brauchte eine gewisse Zeit in der Festung, um sich klar zu werden, wie belastend der Zugriff der Menschen – von ihren Arbeitskollegen bis zu ihrem Mann – in den letzten Jahren gewesen war. Hier, unter den Soldaten, die sie nicht kannten, verlangte niemand Rechenschaft, fragte niemand: »Genossin Weißberg, wann nehmen Sie endlich den Verband ab?«
Das Grüppchen war schon ganz nahe, sie nahm Haltung an, und jetzt, da sie seine Gesichtszüge erblickte, dachte sie, dass es schwierig wäre, dieses Gesicht genau zu beschreiben oder irgendein markantes Merkmal zu nennen. Das Haar war nach hinten gekämmt und an den Schläfen bereits ergraut, über seinen grünen Augen wölbten sich dünne Brauen, seine Haut war gerötet und straff, doch an den Mundwinkeln zeigte sich ein müdes Zucken. Er war von durchschnittlicher Größe und trug einen Mantel mit prächtigem Pelzkragen, aber zu kurzen Ärmeln, und an einem Arm eine goldene Uhr. Sein Gesicht zeigte weder besonderen Elan noch Neugierde, sondern einen verhaltenen und freundlichen Ausdruck, doch schien es, als wäre diese Freundlichkeit nur eine Hülle, die dem Gesicht nachlässig übergestülpt worden war.
Und tatsächlich, als ihre Augen sich trafen, legte sich eine interessierte und feierliche Miene auf dieses Gesicht. Als hätte er ihre Gedanken gelesen, ließ er seinen Blick über die Festung ringsum streifen und nickte zum Zeichen, dass der Anblick beträchtlichen Eindruck auf ihn machte. Kaum eine Minute später nahm sein Blick einen derart natürlichen Hausherrengestus an, dass der deutsche Repräsentant des Aktionskomitees wirkte, als wäre er in dieser Festung geboren.
Wen hatten die Deutschen denn da geschickt? Der Mann war eine einzige falsche Pose. Noch ehe sie ein Wort miteinander gewechselt hatten, stand ihr Urteil über ihn fest: ein perfekter Scharlatan. Insgeheim verfluchte sie die Faschisten, die einen solchen Menschen für das Komitee, das mit der Organisation der Parade betraut sein sollte, ausgewählt hatten. Sie atmete tief durch, vielleicht war sie vorschnell gewesen in ihrem Urteil, dennoch fühlte sie sich unwohl bei dem Gedanken, gleich seine Hand schütteln zu müssen.
Er blieb dicht vor ihr stehen und verbeugte sich mit freundlichem Lächeln, seine Augen strahlten. Plötzlich erschien er ihr pathetisch in seinem Bestreben, Gefallen zu finden.
»Monsieur Thomas Heiselberg, im Namen des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten begrüße ich Sie und hoffe, Ihre Reise war angenehm.« Diesen Satz hatte sie auf Französisch zuvor geübt, bis er ihr fast akzentfrei von der Zunge ging.
Sie wechselten ein paar vorgeschriebene Höflichkeitsfloskeln, einige Sätze über den guten Willen ihrer beiden Staaten und die Lauterkeit ihrer gemeinsamen Absichten und tauschten gute Wünsche für das deutsche Volk und für die Bürger der Sowjetunion aus.
Dann führte sie ihn auf einem kurzen Rundgang durch die Festung. Die beiden NKWD-Agenten trotteten hinterdrein. Völlig zusammenhanglos sagte er: »Heute Morgen, nach einem kurzen Schläfchen im Zug, bin ich zu einem sehr interessanten Schluss
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