Gute Leute: Roman (German Edition)
die Erkenntnis auf, dass der Plan zu kündigen nichts anderes war als das Vergnügen eines Kindes, das eine Entscheidung im Schutz des sicheren Wissens trifft, ein anderer werde für die Folgen einstehen. Klarissa hatte ihm einmal geschrieben: »Von dem Moment an, in dem du dir einer eigenen Unzulänglichkeit bewusst geworden bist, ist das unendliche Feld von Möglichkeiten der Kindheit mit einem Mal dahin, ist deine Jugend vorbei.«
Dem Schweigen der Herren entnahm er, dass sie seine Reaktion vorhergesehen hatten, doch das Ziel des Manövers war ihm nicht klar: Wollten sie ihn nur demütigen, oder steckte noch etwas anderes dahinter? Er war jedenfalls entschlossen, erhobenen Hauptes in die Falle zu gehen. Eines hatte er von Weller gelernt: Humana dignitas servanda est, ein Mensch, auch wenn er seines Postens beraubt wird, hat seine Selbstachtung zu bewahren und verhält sich am besten wie jener exilierte russische Prinz, den er in seiner Jugend gemimt hatte. Wollte er überleben, musste er sich jetzt wie jemand gebärden, der eine hohe Stellung innehatte, wenn Martin Luther ihn mit einem Fußtritt nach oben beförderte.
Er musterte die Umsitzenden mit frostigem Blick. »Bitte übermitteln Sie Dr. Weller meinen Dank für das Vertrauen, das er in mich setzt. Innerhalb einer Woche werde ich Sie wissen lassen, wo ich das Büro der ›Deutsch-Sowjetischen Parade‹ einzurichten gedenke. Und selbstverständlich werde ich jede Idee, die Ihnen noch in den Sinn kommt, gern in meine Planungen einbeziehen«, fügte er mit einladender Geste hinzu. »Interessant, dass Sie den historischen Kontext der Parade erwähnten, Sie wissen sicherlich, dass die Stadt Brest-Litowsk Teil der ›Lubliner Union‹ war, die im Jahre 1569 ausgerufen wurde. Daher gilt es mit Bedacht zu prüfen, welchen historischen Zeitabschnitt wir in den Vordergrund rücken sollten. Hinsichtlich eines persönlichen Schreibens des Unterstaatssekretärs im Auswärtigen Amt …« Eigentlich hatte er erwartet, dass der Mann vom Auswärtigen Amt sogleich auffahren würde, aber nichts geschah. »Keine Sorge«, fuhr er leutselig fort. »Ich bestehe nicht auf einem Ernennungsschreiben, da Sie mich die Notwendigkeit zur Diskretion haben verstehen lassen. Meine bescheidene Bitte lautet lediglich, ein Schreiben zu erhalten, in dem Herr von Weizsäcker seine Wertschätzung für meine Dienste zum Ausdruck bringen möge. Den freundlichen Worten, die ich hier vernommen habe, entnehme ich, dass das Amt, dem ich mich mit jeder Faser meines Herzens verbunden fühle, meine Loyalität zu würdigen weiß.«
Brest, Februar 1941
Sascha stand in der Mitte des weißen Festungsvorplatzes. Der Schnee strahlte von den Bäumen, deren Äste in sonderbaren Verrenkungen erstarrt waren, überzuckerte die Dächer der alten Gebäude und die Türme, häufte sich auf Fenstersimsen und Türschwellen, ja es schien, als erhöben sich auch über dem durchsichtigen Raum weiße Mauern, bis die gesamte Festung wie ein Eiskrater aussah.
Um Sascha herum war Stille, doch in ihr wogte seit dem Augenblick, da sie an diesem Morgen aufgestanden war, ein stürmisches Rauschen, die Erwartung eines gewaltigen Ereignisses.
Er kam auf sie zu, eine Zweimanneskorte hinter sich. Von weitem sahen sie aus wie Schneemänner. Je näher sie kamen, desto mehr störte sie sich an der Tatsache, dass sich der Mann nicht umsah. Sie hatte keinen Zweifel, dass dies sein erster Besuch in der Brester Festung war, dennoch ließ er seine Augen nicht ein einziges Mal über die Mauern, die Tore und Gebäudetrakte schweifen.
Die letzten Tage, die sie allein für sich unten, am Grund des Kraters, verbracht hatte, um das erste Treffen des »Deutsch-Sowjetischen Militäraktionskomitees« vorzubereiten, waren ihre besten seit langer Zeit gewesen. Wenn sie doch noch Jahre hier bleiben könnte, um jeden Morgen durch den dunklen Tunnel des Cholmer Tores und dann durch die Arkaden der Kirche des Heiligen Nikolai zu wandern, den Kindern der Offiziere der 4. Armee zuzuschauen, die durch die Festung tobten, Stöcke in den Schnee steckten und darüber sprangen, sich zu geheimen, schicksalhaften Treffen am Terespoler Tor versammelten.
Sie liebte es, gegen Mittag die weißen Hügel zu erklimmen und nach Westen zum Fluss zu blicken. Die mit Gras und Stroh getarnten Geschützrohre, die Zelte, der Rauch, der aus dem deutschen Feldlager aufstieg – alles war hinter einem weißen Vorhang verschwunden und schien in schläfrigem Gleichmut
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