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Gute Leute: Roman (German Edition)

Gute Leute: Roman (German Edition)

Titel: Gute Leute: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nir Baram
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auch, dass vermutlich nichts von dem, was sie über die Geschichte der Festung erzählt hatte, neu für ihn gewesen war – und höchstwahrscheinlich wusste er auch, dass sie nicht Mademoiselle Weißberg, sondern Madame Podolski war.
    Wieder einmal verschlug es sie in dieses Schattenreich, in dem sie die Welt aus dem Bewusstsein eines anderen zu erfassen versuchte, sich in seine Intrigen und Ängste hineinversetzte. Wer war er wirklich? War er so hartnäckig, wie er wirkte? Begierig, seinen Ehrgeiz zu stillen? Ein Mensch, der keine Mittel scheute, um mit seinen Feinden abzurechnen? Oder war er wie manche ihrer Verhöropfer: Genügte ein bisschen Mitgefühl, vermischt mit eingestreuten Drohungen, um ihn zu einem Geständnis zu bringen? Oder brauchte es dazu Schreie und eine Woche ohne Schlaf? Oder vielleicht eine Sonderbehandlung? Jeden Tag hatte sie Dutzende von Menschen gehäutet, Beschuldigte wie Kollegen gleichermaßen. Jetzt war er an der Reihe.
    Sie vermied es, den Blick auf die Tränensäcke unter seinen Augen zu richten. Er jedoch schien sie wohlwollend zu betrachten, nickte großmütig, wenn sie sprach. Jetzt kam sie zu dem Schluss, dass er sich zuvor, als er die Festung keines Blickes gewürdigt hatte, geschickt verstellt haben musste, denn das Irrlichtern in seinen Augen war Beleg genug, dass er ein manischer Sammler von Eindrücken war. In dieser Hinsicht würde sie ihm noch viel beibringen können. Stjopa hatte immer behauptet, ihr Blick vergeude nicht einmal einen Wimpernschlag. Der Deutsche war offenbar ein Mensch, der glaubte, dass es unmöglich sei, ihn zu häuten. Viele Menschen gaben sich dieser Illusion hin, bis sie es mit dem NKWD zu tun bekamen.
    Sie stiegen die Treppe zum Sitzungsraum hinauf, wo ein kleiner Imbiss sie erwartete. Sascha erlaubte sich die Bemerkung, sie sei voller Bewunderung für den Einsatz der deutschen Luftwaffe in Coventry, eine Leistung, an die sich die Geschichte gern erinnern werde! Er antwortete sogleich, in nicht geringerem Maße habe er die Erfolge der »Roten Armee der Arbeiter und Bauern« in der Schlacht gegen die waffenstarrende Großmacht Finnland bewundert. Sie begannen, in großen Sprüngen die Historie zu durchwandern und sich gegenseitig mit Komplimenten zu überhäufen, die phantastische Arbeit der Roten Armee in der Schlacht an der Weichsel, die militärische Genialität Kaiser Wilhelms II., die großen Erfolge Russlands im Krieg gegen Japan im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts: »Ihr habt die Japaner wirklich in den Hut gesteckt«, Bismarck, der große Humanist, die Vertreibung Napoleons aus Deutschland, die Briefe Fichtes: »Niemals zuvor ist ein großer Eroberer auf einen gefährlicheren Feind gestoßen« – ja, sie amüsierten sich dabei so gut, dass sie nicht davor zurückschreckten, einer dem anderen über den Mund zu fahren und ins Wort zu fallen. Doch als sie sich zu Tisch setzten, war die Unbeschwertheit verschwunden.
    »Was Coventry betrifft«, sagte er mit Nachdruck, »so wissen Sie doch, dass die Briten unsere Städte bombardiert haben, Mönchengladbach als erstes, und Hunderte von Deutschen getötet haben, lange bevor unsere Flugzeuge im Anflug auf Britannien waren. Um genau zu sein, während die Reichsregierung ihnen Vorschläge unterbreitete mit dem alleinigen Ziel, den Frieden zu wahren, haben sie monatelang unsere Städte angegriffen.«
    Schade, dass er sich von ihrem netten kleinen Spiel verabschiedet und es offenbar eilig hatte, Deutschland im Stil eines Propagandisten zu verteidigen. Möglich, dass sein Fanatismus, wenn es um die Ehre seines Vaterlandes ging, größer war, als sie gemeint hatte. Er spielte mit einem Bleistift, beugte sich über den Tisch und nahm einen Schluck Tee. Sein Gesicht und Hals waren gerötet.
    »Fühlen Sie sich wohl?«, fragte sie. »Brauchen Sie etwas Ruhe?«
    Er verneinte und richtete sich auf.
    Die Speisen rührten sie nicht an. Sie nutzte die Gelegenheit, ihm ein ins Deutsche übersetztes Positionspapier zur »Deutsch-Sowjetischen Parade« zu erläutern und schlug vor, den Termin in die Frühjahrsmonate zu legen, da eine Militärparade ein Volksvergnügen sei und an einem sonnigen Tag stattfinden sollte. Danach fragte sie, in welcher Weise auch die Bürger des Deutschen Reiches an der Parade beteiligt werden könnten. Möglich wäre, zwei kleine Solidaritätsparaden abzuhalten: Die jungen Pioniere würden durch Berlin marschieren und die Hitlerjugend durch Moskau. Sogleich entgegnete er, eine

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