Gute Leute: Roman (German Edition)
gekommen. Die Abfolge der Ereignisse in unseren Träumen ist derart schnell, dass das menschliche Bewusstsein sie nicht verarbeiten kann. Wir träumen in einer Zeit, analysieren den Traum jedoch nach gänzlich anderen Zeitbegriffen.« Während er noch in lupenreinem Französisch glänzte, mit Begriffen kokettierte, deren Bedeutung er ihr, der russischen Bäuerin, zu erklären bestrebt war, begann sie, Zweifel an ihrem ersten Eindruck zu hegen. Jetzt schien es, als sei dem Mann die Frage vollkommen gleichgültig, ob er nun Gefallen in ihren Augen fand oder nicht.
Er plauderte, dozierte und bramarbasierte, als geböte die Höflichkeit nicht, zunächst einmal seiner Gastgeberin Gehör zu schenken. Dachte er vielleicht, auch hier seien, wie in seinem Land, Frauen zumeist bloß Sekretärinnen, die hochgestellte Persönlichkeiten von einem Ort zum anderen begleiteten? Nein, das war unmöglich, schließlich hatten sie in ihrer Korrespondenz beide mit vollem Namen unterzeichnet, und er wirkte nicht wie ein Mann, dem solche Details entgingen. Als sie ihm erzählte, hier, im weißen Schloss, sei der Friedensvertrag zwischen Russland und Deutschland unterzeichnet worden, der zum Ende des Ersten Weltkriegs geführt hatte, formten sich seine Lippen zu einem leisen Pfiff: »Da haben Sie einen symbolträchtigen Ort für unser erstes Treffen gewählt, Mademoiselle Weißberg, wenn Sie mir gestatten …«
»Selbstverständlich, Monsieur.«
»Ich erinnere mich an die Bilder in den Zeitungen: Weiße Wände, ein kleiner Tisch, dahinter Männer in Uniform oder weißem Hemd und schwarzer Fliege, wie in einem Chor. Vor den Wänden wirkten die Gesichter verschwommen. Als Junge fesselten diese Männer meine Aufmerksamkeit. Im Alter würden sie mit ihren Enkeln zusammensitzen und sagen: Hier, das sind wir, diese verschwommenen Gesichter beim Vertrag von Brest-Litowsk – c’est terrible! Mein Vater hat mich immer für meine Neigung gescholten, mich ausgerechnet für die Kulisse zu interessieren.«
»Mein Vater hat uns im Gegenteil immer geraten, uns von der Politik fernzuhalten«, sagte sie. »Mein jüngerer Bruder Wlada hat uns tagelang seine langweiligen Ansichten gepredigt, bis auch die gemeinsamen Abendessen zu einem Albtraum wurden.«
Der Deutsche wirkte befriedigt: Jeder von ihnen hatte dem Treffen eine persönliche Note beigefügt. Er nickte zum Zeichen, dass man es bei diesen Bemerkungen belassen sollte.
Ein amüsiertes Lachen kitzelte in ihrer Kehle: Dachte er etwa, sie kenne dieses Zeremoniell nicht?
Seine Augen musterten das Gebäude. »Von außen ist der Bau nicht besonders beeindruckend, ich hatte ihn mir ganz anders vorgestellt. Es war doch Trotzki, der die Einzelheiten des Vertrages formuliert hat, nicht wahr?«
»Also, wie Sie sehen«, sie überging seine stichelnde Frage, »wurde ein Teil des Daches zerstört, und auch die Einkerbungen in der Fassade sind Schäden vom Beschuss der deutschen Armee im September 39.«
»Ja, die Polen hatten sich hier verschanzt und uns Scherereien gemacht«, beeilte er sich zu erwidern.
Als sie ihm von den wechselnden Herrschern über die Festung erzählte, schilderte, wie das Bauwerk von einer Hand in die nächste gewandert war, Russland-Deutschland-Russland-Polen, und jetzt die Sowjetunion, sagte er, in letzter Zeit sei ihm öfter der Gedanke gekommen, ob man in Europa die Straßen nicht besser mit Nummern bezeichnen sollte, wie in New York. Denn jeder Eroberer änderte die Namen von Straßen und Plätzen, so dass man schließlich den Eindruck habe, durch ein Labyrinth zu irren. Nummern, das sei die Lösung – zum Nutzen der Sieger wie der Besiegten.
Zunächst klang ihr seine Bemerkung amüsant, aber dann begriff sie, dass er sich indirekt über ihre Arbeit lustig machte. Nikita Michailowitsch hatte sie schließlich um ihre Mitarbeit in dem Ausschuss gebeten, der Vorschläge für neue Straßennamen vorlegen sollte – »Moskauer Allee« war ihre Idee gewesen, vor allem aber war sie stolz auf Straßen, die die Namen zweier Männer tragen sollten, die ihr Vater verehrt hatte, Michail Lermontow und Sergo Ordschonikidse.
Aber woher wusste der Deutsche davon? In Gedanken ging sie ihre Briefe an ihn durch, die von Vertretern sieben verschiedener Stellen gelesen worden waren, ehe man sie nach Lublin gesandt hatte. Nirgendwo war von den Straßennamen die Rede. Vielleicht hatte der deutsche Nachrichtendienst ihm ein Dossier über ihren Lebenslauf zusammengestellt. Jetzt verstand sie
Weitere Kostenlose Bücher