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Gute Leute: Roman (German Edition)

Gute Leute: Roman (German Edition)

Titel: Gute Leute: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nir Baram
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Verräter verlangen, daran teilzunehmen. Von daher waren die Abwesenden nichts weiter als harmlose Feiglinge, während das wirklich gefährliche Subjekt, jener verräterische Faddei Wenediktowitsch Bulgarin, hier saß, hier unter uns!
    Das Wesen des Verräters ließ sich eben nicht bestimmen – besser man hoffte, es gäbe auf der Welt keinen Menschen von solcher Niedertracht, dass er die eigenen Freunde hinterging. Dennoch kursierten jeden Tag Gerüchte über Menschen, die ihre Nächsten ans Messer geliefert hatten. »1938 ist ein Jahr, in dem ein kluger Mensch niemandem etwas anvertraut, es sei denn seinen Namen und seinen Arbeitsplatz«, hatte der Literaturkritiker Brodski konstatiert.
    »Wo steckt Ossip Borisowitsch? Seit sie Nadjeschda Petrowna verhaftet haben, ist er verschwunden«, klagte der Dichter Konstantin Varlamow. Er fuhr sich mit der Hand durch die weiße Haarpracht, die ihm in seine faltenzerfurchte Stirn fiel, und bedachte die Männer mit einem Blick der Selbstzufriedenheit, als wollte er ihnen bedeuten: Habt ihr, ihr jungen Burschen, etwa solch eine prachtvolle Mähne?
    In der Tat, die Abwesenheit von Ossip Borisowitsch Lewajew weckte Unruhe unter den im Salon Versammelten. Er war der glühendste Verehrer von Nadjeschda Petrowna und hatte in der Vergangenheit sogar die handschriftliche Erlaubnis von Sergej Kirow erwirkt, ihre Gedichte in Buchform zu drucken. Nicht zu vergessen auch jener Skandal, als er dem Schriftsteller Alexei Tolstoi die Stirn ins Gesicht gerammt hatte, nachdem dieser das erste Buch von Nadjeschda Petrowna als »dekadenten Kosmopolitismus« bezeichnet hatte.
    »Seine Frau sieht es lieber, dass er tot ist oder zu Hause hockt«, verkündete Emma Fjodorowna. Sie zog ihren breitkrempigen Hut vom Kopf, wuschelte sich energisch durch die Haare und zündete sich eine Zigarette an, deren Rauch sie ostentativ gegen Brodskis Brillengläser blies. In ihren grünlichen Augen lag dieses krawallsüchtige Glänzen, das die gekränkten Gesichter ihrer Freunde verfolgte, doch Sascha hatte darin schon immer die schöne Elegie einer unbefriedigten Seele gesehen. »Wenn er mal bloß nicht verhaftet worden ist, denn dann müsste sie für ihn durch die Gegend laufen, anstatt den ganzen Tag mit ihrer stotternden Schwester im Bett zu liegen und alle Welt zu verleumden.«
    Ein spöttisches Zucken huschte über Alexandras Gesicht. Als kleines Mädchen hatte Emma sie oft auf den Arm genommen, ihr Gesicht mit nach Zigarettenrauch schmeckenden Küssen bedeckt und war über Leute hergezogen, ja sogar über ihre Eltern. Jetzt lehnte Sascha in ihrem dunklen Zimmer an der Wand und schob die Tür noch ein bisschen weiter auf, um auch den nach Osten gelegenen Teil des Salons überblicken zu können, wo ihre Eltern saßen. Es war das zweite Mal in diesem Monat, dass dieses trostlose Grüppchen zusammenkam, um sich wegen der Verhaftung von Nadjeschda Petrowna zu beraten, recht eigentlich jedoch um die Gefahr abzuwenden, die ihnen selbst drohte. Wahrscheinlich würden abermals »dringliche Beschlüsse« gefasst werden, die niemand in die Tat umzusetzen wagte.
    Sie konnte sich nicht zurückhalten und schob den Kopf durch die Türöffnung, so dass sie im Spiegel zwischen den Bücherschränken einen Blick auf ihren Vater werfen konnte. Er saß in seinem Schaukelstuhl und starrte auf den hübschen Glasrahmen an der gegenüberliegenden Wand: eine Karte der »Großen Fabriken der Sowjetunion«, ein Geschenk des Institutsdirektors an den Genossen Physiker Andrej Weißberg. Immer wieder schaute er zu ihrer Mutter, die am Petroleumstöfchen den Gästen Tee einschenkte und dabei nach ihrem Wohlergehen und dem ihrer Angehörigen fragte. Sascha verabscheute dieses Zeremoniell: Jedes Mal, wenn ihr Vater seine Frau ansah, zog eine Wolke der Ohnmacht über sein Gesicht und er verhielt sich wie ein Mensch, der unter der Willkür der Welt erstarrt ist, so dass es an Valeria war, seine Argumente geltend zu machen.
    So hatte etwa sein Direktor, der Leiter des Physikalisch-Technischen Instituts, ihrem Vater im letzten Sommer eröffnet, ihm sei die Ehre zuteil geworden, das Institut bei der Zusammenkunft des Volkskommissariats für die Schwerindustrie in Moskau zu vertreten, wo der Arbeitsplan für das Jahr 1939 erörtert werden sollte. Doch war allgemein bekannt, dass Moskaureisende bei ihrer Rückkehr umgehend verhaftet wurden, und es bestand der Verdacht, dass sie mit ihren Äußerungen Argwohn geweckt hatten. Überdies lenkte ein

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