Gute Leute: Roman (German Edition)
sie mit vereinten Kräften. Emma Fjodorowna reibe sie ständig mit Öl ein, als wäre sie eine alte Wagendeichsel.
Ihr Vater streifte ihr das Nachthemd ab und trocknete ihren Schweiß mit einem Handtuch. Sascha wandte ihnen den Rücken zu, während Nadja weiter jammerte: Niemand komme sie besuchen, schon sei sie von allen begraben, der Rücken tue ihr weh ob der Treulosigkeit ihrer ehemaligen Freunde. »Dreh dich um zu mir, Mädchen«, herrschte sie Sascha plötzlich an, »du bist die einzige, die keinen Verrat üben wird.«
Sascha hatte sich langsam zu ihr umgedreht und ihren Vater betrachtet, der seine Lippen auf Nadjas Augen und Stirn drückte und ihr Zärtlichkeiten zuflüsterte. Dann hatte er ihr Fleischbrühe eingeflößt, die er in der Kantine des Instituts für sie beschafft hatte. Sascha spürte, dass jeder Augenblick der Nähe zu dieser Frau ihn aus seiner Lethargie aufrüttelte: Mit einem Mal kam er in Schwung, wurden seine Bewegungen zielgerichtet. Bis Nadja eingeschlafen war, hatte ihr Vater ihre Hand geküsst und sie an sein Herz gedrückt, hatte sie mit Geschichten über einflussreiche Persönlichkeiten getröstet, die ihre Verse so aufgewühlt hätten, dass sie schon bald eine Sondergratifikation erhalten würde. Auch der Literaturkritiker Brodski habe sich bewegt gezeigt und würde in seiner Zeitung gewiss eine Besprechung ihres Werkes bringen.
Jetzt streckte Sascha ihre Beine, die steif geworden waren, und schritt ihr Zimmer in kleinen Kreisen ab. An ihrem Schreibtisch blieb sie stehen und ordnete beim schwachen Licht aus dem Salon die Aufgabenzettel für die anstehende Woche. Alles erschien ihr langweilig und trostlos, vor allem das Vorstellungsgespräch, das Shenja ihr für eine Stelle als Stenotypistin besorgt hatte. Ihre Mutter pflegte zu sticheln, in einer besonders geschäftigen Woche erledige sich bereits ein Viertel aller Aufgaben auf diesen Zetteln von selbst. Aber ihre Mutter begriff rein gar nichts. Selbstverständlich würde sie, hätte sie eine interessante Arbeit wie Brodski oder gar wie ihre Freundin Shenja, die Artikel aus englischsprachigen Zeitungen für die Redakteure des Auslandsressorts der »Leningradskaja Prawda« übersetzte, Tag und Nacht arbeiten.
Sie kehrte zurück zur Tür. Im Salon herrschte Schweigen. Alle warteten noch immer darauf, dass ihr Vater, der gebeugt dasaß und sich müde auf die Knie klopfte, den Mund aufmachte. Als sich herausstellte, dass von Andrej Weißberg keine Erlösung zu erwarten war, richteten sich alle Augen auf Wladimir Muraschowski, der bisher geschwiegen hatte. Muraschowski arbeitete in einer Reparaturwerkstatt, in der vornehmlich die Fahrzeuge hochrangiger Funktionäre gewartet wurden. Er war ein eingeschworener Lyrikfreund, doch mehr noch als für die Verse hegte er eine glühende Liebe für Details, mit deren Hilfe er den Dichtern ein »Gesamtbild« entwarf, das ihnen längst bekannt war.
»Nein, niemand hat etwas davon erwähnt … Ich hab einen Freund gefragt, der Mitglied in gewissen Gremien ist und zu dessen Bekanntenkreis so mancher zählt, dessen Einfluss nicht zu verachten ist, und …«
»Und was hat er gesagt?«, fiel Emma ihm ins Wort.
»Er hat gesagt, dass es keine Gerüchte gibt und dass das meistens das schlimmste Zeichen überhaupt ist.« Muraschowski hob die gewaltigen Schultern und breitete entschuldigend seine Hände aus, über die manche scherzend sagten, in einer seiner Fäuste könnte er die Köpfe von Weißberg und Brodski verstecken, und es bliebe noch genug Platz für all die Frauen, mit denen die beiden noch nicht geschlafen hatten.
»Es gab in unseren Augen keinen Grund, Nadja zu verhaften«, stellte Lewajew fest und setzte eine ernste Miene auf. »Aber angesichts der Vielzahl terroristischer Zirkel, die in letzter Zeit aufgedeckt worden sind, ist es die Pflicht eines jeden loyalen Bürgers, den Ermittlungsbehörden zu helfen, zur Wahrheit zu gelangen.«
»Du, Andrjuscha«, wandte sich Emma mit schelmischem Blick an Saschas Vater, »bist von uns allen Nadka am nächsten gewesen, auch des Nachts. Kannst du dir einen Grund für ihre Verhaftung denken?«
Niemand wagte, Valeria ins Gesicht zu schauen, die neben ihrem Mann saß und seine Hand drückte – niemand außer Emma, selbstredend.
»Emma Fjodorowna, Andrjuscha hat doch bereits gesagt, dass er nichts weiß. Er ist den ganzen Tag im Institut beschäftigt«, wies Valeria sie zurecht. »Ich schlage vor, dass wir uns an den Genossen Stepan
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