Gute Leute: Roman (German Edition)
Dichterinnen Leningrads hatte sich Emma Fjodorowna ausgerechnet Nadjeschda Petrowna als teuflischen Gegenpart erkoren – als enge Freundin und noch intimere Feindin. Nadja war ihr immer voraus gewesen, hatte Ziele erreicht, von denen Emma höchstens träumte, und ihr nur Brosamen des Ruhmes und der Ehre übriggelassen. Eine von Saschas lebhaftesten Kindheitserinnerungen war jener Lyrikabend, an dessen Ende Emma eine Flasche Petroleumöl über Nadjas rotes Gewand geleert hatte, nachdem diese behauptet hatte, Emmas Gedichte ließen sie im Stehen einschlafen, genau wie die Erzählungen von Maximitsch. Die Beleidigung des Vergleichs mit Gorki ließ Emma außer sich geraten. Am ganzen Leib zitternd stand sie vor Nadja, die sich gelassen auf das Fensterbrett lehnte und sagte: »Bitte, zünde ein Streichholz an, wenn du den Mut dazu hast. Wenn du doch nur den Mut hättest, meine Teure.«
Ossip Lewajew sah in die Gesichter der Anwesenden, als wunderte er sich über ihre Verzagtheit, und wandte sich dann an Saschas Vater: »Andrej Pawlowitsch, ich habe zwar das letzte Treffen versäumt, aber heute Abend hast du uns erneut in dein Haus eingeladen. Vielleicht erläuterst du uns, was deiner Meinung nach zu tun ist? Es versteht sich von selbst, dass jeder von uns sich Fragen zu der Verhaftung stellt. Was mich anbelangt, ich weiß nichts über diesen Fall, habe in den letzten Monaten Nadja so gut wie nicht gesehen.«
Von ihrem Versteck aus musterte Sascha den jungen Lewajew, dessen kühler Gesichtsausdruck die Distanziertheit unterstrich, die in letzter Zeit zwischen ihm und Nadja und ihren Freunden geherrscht hatte. Warum war er dann heute Abend überhaupt gekommen? Sollte er der Verräter sein? Oder war er vor lauter Angst zu Hause nervös geworden und wollte herausfinden, ob eine Chance bestand, der Verhaftung zu entgehen? Dieses Treffen brachte zwar alle in Gefahr, aber Nadjas Verhaftung bedeutete ohnehin für ihre Freunde das nahe Ende. Vielleicht war ja die Zurschaustellung von Unbescholtenheit und Treue zur Partei bei einem Treffen, dessen Einzelheiten dem NKWD gewiss zur Kenntnis gelangen würden, besser, als sich zu Hause zu verkriechen. Ossip Borisowitschs Lippen tanzten jetzt wie rosige Halbmonde vor ihr. An ihrem achtzehnten Geburtstag hatten sie sich am Strand geküsst. Danach hatte er sie ein geschlagenes Jahr lang angefleht, ihrer Mutter nichts davon zu erzählen, und ihr beflissentlich Komplimente für ihre Gedichte gemacht. Sie waren nicht allzu gut, das wusste sie, doch hatte ihr Traum, Dichterin zu werden, in letzter Zeit ohnehin einiges von seinem Zauber eingebüßt. In ihrer Jugend hatten sie die Verse von Nadja und Emma fasziniert, aber ob der Traum tatsächlich ihrem Innersten entsprang, blieb zweifelhaft.
Andrej Pawlowitsch Weißberg, der Mann, der jetzt aufgefordert war, die Gruppe zu führen, rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her und starrte in einen Himmel, an dem bereits eine verfrühte Herbstdämmerung aufgezogen war. Kalte Windstöße schlugen gegen die Scheiben, und alle hüllten sich fester in ihre Jacken. Auch er nahm jetzt seine Jacke von der Rückenlehne des Stuhls und zog sie an wie ein gescholtener kleiner Junge. Seine gequälte Miene kündete von den Schreckensbildern, die seine Phantasie heraufbeschwor: Seine geliebte Nadka im Gefängnis, hin und her gezerrt zwischen der engen Zelle, in der sie ganze Tage stehend verbringen musste, und dem Verhörzimmer, in dem man sie auf einem Stuhl Platz nehmen hieß – oder manchmal, zur Strafe, weiter stehen ließ –, für eine Vernehmung von acht Stunden und gleich im Anschluss die nächste, wieder und wieder von ihr verlangte, ihren Lebenslauf zu Protokoll zu geben, Namen zu nennen, ein Geständnis niederzuschreiben.
Sascha begriff, dass ihr Vater bereits Nadjas Verlust betrauerte. Die letzten Jahre hatten ihn ausgezehrt, und er glaubte wohl nicht mehr an die Fähigkeit des Menschen, das eigene Schicksal in die Hand zu nehmen. Wäre es nach ihm gegangen, hätte er schon jetzt die Trauerfeier für sie abgehalten.
Nur ein einziges Mal hatte er sie zu Nadjas Behausung mitgenommen. Sie war vielleicht zwölf gewesen. Die Dichterin war schwer erkrankt, und ihr Vater besuchte sie jeden Tag. Sie lag in einem winzigen ungeheizten Zimmer, in dem es nach ranzigem Öl roch. Eingewickelt in einen Wust von Laken, jammerte Nadja, ihr Körper lasse sie im Stich, und zwei alte Weiber und vier Kinder, die mit ihr in dieser Wohnung lebten, quälten
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