Gute Leute: Roman (German Edition)
worauf Sie hinauswollen und welcher Tod Ihnen jetzt zu schaffen macht: Der meines Vaters oder der meiner Mutter?«
Erika schwieg. Er verabscheute ihr Schweigen. In letzter Zeit war er zu der Überzeugung gelangt, sie sei mit den Antworten, die er ihr gab, nicht zufrieden.
»Welche Art von Frau war Ihre Mutter?«, fragte sie schließlich.
Als ob sie das nicht wüsste, dachte er ärgerlich. Jahrelang beschäftigten sie sich schon mit ihr. »Stellen Sie sich die Besitzerin eines prachtvollen, bis ins kleinste Detail exquisit ausgestatteten Hotels vor, an dem die Zeit nicht spurlos vorübergegangen ist. An allen Ecken und Enden lässt sie die Zeugnisse ehemaliger Pracht abblättern, doch die Besitzerin des Hotels verriegelt alle Türen, schließt die Fensterläden, sitzt in ihrem schönsten Kleid in ihrem leeren Büro und wartet darauf, dass der Wind es zerstört.« Er fügte noch weitere Beispiele an, die ihm die Phantasie eingab, und merkte, wie er dabei zunehmend gerührt wurde.
»Thomas, bereits seit einigen Sitzungen reden Sie über Ihre Mutter nur noch in Metaphern«, beklagte sich Erika Gelber. »Und alle ähneln einander.«
Ihr devoter Tonfall entsetzte ihn. Er verstand, dass sie nicht sagte, was ihr als erstes in den Sinn gekommen war. Sie bemüht sich, mich zu beschwichtigen, dachte er, sie scheut die Konfrontation. Doch es war gerade die brüske Aufrichtigkeit Erikas, die sein Herz bei ihren ersten Sitzungen erobert hatte. Immer fragte sie nach konkreten Erinnerungen oder Begebenheiten und wies ihn zurecht, wenn er die von ihm so geliebten Metaphern bemühte. Schon seit einer Weile hatte er ihre Verunsicherung registriert und doch immer gehofft, dass sie bei ihren Treffen den Lärm der Außenwelt würden ausblenden, ihre alten Spielregeln würden beibehalten können. In den letzten Monaten hatte er Anzeichen einer Veränderung auch in der Art wahrgenommen, mit der sie sich durch einen Raum bewegte. Mit einem Mal fehlte ihren Bewegungen jene Gewandtheit, die einen Menschen auszeichnet, der sich seiner Stellung in der Welt gewiss ist.
Verachtung überkam ihn, er entschuldigte sich und eilte ins Bad. Spülte sich das brennende Gesicht mit kaltem Wasser und überlegte, ob er die Angelegenheit bei der Sitzung zur Sprache bringen sollte. Das Problem war, dass sie, wenn er jetzt mit ihr darüber spräche, zu ihrem alten Stil zurückkehren würde, nur um seinem Wunsch nachzukommen. Doch es war eine unverrückbare Tatsache: Nichts würde jemals wieder so sein, wie es gewesen war. Schon lange sehnte er sich nach den Stunden, die sie vor Jahren zusammen gehabt hatten: nach dem traurigen Licht der untergehenden Sonne, das die Schatten der Kakteen auf dem Bücherbord lang werden ließ, nach ihren zu farbenfrohen Kleidern – er hatte sie fast noch alle in Erinnerung –, nach ihrem aufmerksam lauschenden Gesichtsausdruck, in den sich Sympathie auch für seine durchschaubarsten Manöver mischte.
Zurückhaltung und Selbstbeherrschung gingen ihm über alles, und doch war Erika der einzige Mensch, bei dem er die Zuneigung, die er ihr gegenüber empfand, nicht fassen konnte. In ihrer Gegenwart wurde er wieder zum Kind, erfand Kosenamen für sie, die er ihr aber niemals sagte, ohne zu behaupten, dass sie ihm in seinen Träumen offenbart worden seien. Schon seit Jahren ging er an Schaufenstern vorüber und hielt nach Geschenken für sie Ausschau.
»Thomas?«, hörte er sie rufen.
Er atmete tief durch und trat aus dem Bad. »Recht warm ist es hier inzwischen«, beklagte er sich fröhlich.
Die Sitzung ging unter belanglosem Geplauder zu Ende. Die meiste Zeit starrte er auf die Vase mit Krokussen, die Klarissa in dem verlassenen Garten von Professor Bernheimer gepflückt hatte.
Am Schluss strich Erika ihre lange Hose glatt und ließ ihre Finger über die Nelke gleiten, die sie im Revers ihres Jacketts trug. Er erwog, ob er ihr erzählen sollte, dass sie im Auswärtigen Amt den britischen Botschafter Nevile Henderson »Die Nelke mitsamt Mann« nannten. In den letzten Jahren hatte sie, vor allem auf seinen Rat hin, ihre altmodischen und unvorteilhaften Kleider gegen eine Garderobe getauscht, die er als »zeitgemäßer« bezeichnete: gerade geschnittene Röcke, Blusen mit Rüschen, darüber eine dünne Strickjacke und ein kurzes, nur bis zur Hüfte reichendes Jackett. Jetzt meinte Erika, sie würde gern mit ihm über eine private Angelegenheit sprechen. Er dürfe sie selbstverständlich jederzeit unterbrechen, sollte ihm
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