Gute Leute: Roman (German Edition)
hatte, aber es hatte auch ihr Leiden verkürzt.
Hermann hatte er seitdem nicht wiedergesehen. Mitunter drängte sich ihm die Frage auf, warum sein ehemaliger Schulkamerad dies alles getan hatte. Aber anstatt sich lange mit dieser Frage herumzuplagen, begann er zu überlegen, welche Maßnahmen er gegen Hermann ergreifen konnte. Aus seinem Widerwillen gegen Thomas’ Talent, »Menschen an der Nase herumzuführen«, hatte Hermann nie einen Hehl gemacht (obgleich er die Früchte dieser Betrügereien nicht verschmähen mochte), bis sich die Freundschaft zwischen ihnen irgendwann in Wohlgefallen aufgelöst hatte. Daran war nichts, was ihn belastet hätte: Junge Burschen schworen sich ewige Treue und langweilten einander nach nur einem Monat, und zuweilen erwachten im Laufe der Jahre die schmerzlichen Erinnerungen aus der Vergangenheit, und mit ihnen wuchs die Distanz zu den Freunden aus Kindertagen. Aber selbst wenn Hermann heute in ihm einen Menschen sah, der »seine Seele an die Amerikaner verkauft hatte«, fiel es Thomas schwer, den Hass zu begreifen, der in seinen Augen gelodert hatte, und die Zerstörung, die er über jene Wohnung gebracht hatte, in der er einen Gutteil seiner Jugend verbracht hatte. Unternahm Thomas einen Schritt gegen einen SS-Offizier, konnte dies seinen Untergang bedeuten. Blieb zu hoffen, dass Hermann jetzt in dem Gefühl lebte, es seinem Jugendfreund endgültig heimgezahlt zu haben.
Thomas stand im Bad und rieb sich mit einem feuchten Handtuch über die Brust. Er hängte es zum Trocknen auf, kleidete sich an und machte sich daran, das Feuer im Kamin zu entzünden. Wie bedauerlich, dass ausgerechnet die hässlichen Delfter Kacheln am Kamin den Besuch von Hermann und seiner Rotte überlebt hatten. Er schaute auf die Uhr: Gleich würde Erika Gelber läuten. Seit November pflegten sie sich während der Morgenstunden in seiner Wohnung zu treffen. Er ließ sich auf das Sofa im Salon sinken, er war bereit. Es gab etwas, was er bei dieser Sitzung zur Sprache bringen wollte: Seit dem Anfall auf dem Sylvesterball verlor er zuweilen das Zeitgefühl. Wachte morgens auf und suchte in seiner Erinnerung nach Spuren des vorangegangenen Abends. Gehörte dies zu den Symptomen der Krankheit, die ihn befallen hatte? Die Ärzte behaupteten zwar, seine Körperfunktionen seien einwandfrei, und allen, die sich besorgt über sein Aussehen äußerten, pflegte er zu antworten. »Nein, ich bin nicht krank. Selbstverständlich habe ich mich untersuchen lassen. Alles in bester Ordnung.« Aber dennoch spürte er, dass eine Krankheit in seinem Körper nistete, seine Muskeln schwinden ließ und seinen Blick mit ihren schwarzen Schleiern trübte.
Die Türglocke läutete um Punkt halb neun. Erika Gelber stand mit vor Kälte gerötetem Gesicht draußen und meinte mit der ihr eigenen Schroffheit, sie hoffe, der Kamin sei angezündet und der Kaffee stehe bereit.
»Selbstverständlich, Frau Gelber«, erwiderte er, deutete eine Verbeugung an und geleitete sie in den Salon. Sie nahm im Sessel Platz. Doch er wollte sich in seiner eigenen Wohnung nicht hinlegen und an die Decke starren, wie er es in ihrer Klinik getan hatte. Daher nahm er auf dem Sofa eine halb liegende Haltung ein, stützte sich auf einen Ellbogen und blickte zum Kamin. Nach ein paar Belanglosigkeiten sagte Erika Gelber: »Die letzten beiden Sitzungen haben wir dem Verlust der Eltern gewidmet. 1930, nach dem Tod Ihres Vaters, sind Sie zu mir gekommen und klagten über gewisse Anfälle. Außerdem hätten, wie Sie mit großer Aufrichtigkeit einräumten, die Ihren Worten zufolge in Mode gekommenen Ideen der Psychoanalyse Ihr Interesse geweckt.«
»Vielleicht etwas präziser, Frau Gelber: Ich sagte, das In-Mode-Kommen dieser Ideen mache mich neugierig.«
»Korrektur akzeptiert«, erwiderte sie und wirkte überrascht ob seiner Kleinlichkeit. »Sie erinnern sich sicher, dass ich Ihnen nach zwei Jahren der Behandlung gesagt habe, Ihre Weigerung, sich der Trauer anzunähern, sei eine Perseveration, die nicht zu durchbrechen sei. Worauf Sie antworteten, und hier zitiere ich aus meinen Aufzeichnungen: ›Frau Gelber, ich bin nicht zu Ihnen gekommen, um Lektionen in Trauerarbeit zu erhalten. Ich gebe Ihnen mein Wort als Gentleman, der Tod meines Vaters verursacht mir großes Leid. Aber derzeit ist es weniger sein Tod als der meine, der mich belastet.‹«
»Ich kann Dinge nicht erklären, an die ich mich nicht erinnere«, meinte Thomas trocken. »Ich verstehe auch nicht,
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