Gute Leute: Roman (German Edition)
in einen Waschzuber. Dann war ein grauhaariger Mann mit Brille in der Tür erschienen, der hustete und sich die Nase schneuzte. Er beugte sich über Frau Stein, Daunen hefteten sich an seine Kleidung, und immer wieder wischte er eine Feder von seinem Gesicht.
»Ich bin allergisch gegen Federn«, entschuldigte sich der Arzt, den vermutlich die Nachbarn gerufen hatten.
Thomas kannte ihn nicht. Nur gut, dass man nicht nach Doktor Spengler geschickt hatte, diesem Romantiker, der an jedem seiner Patienten hing.
Der Arzt trat zum Fenster und brüllte etwas hinaus, und schon bald standen zwei Männer neben ihm. Er richtete sich auf, und die beiden trugen Frau Steins Leichnam aus dem Zimmer. Nur die hochhackigen Schuhe, ein Geschenk seiner Mutter zu ihrem fünfzigsten Geburtstag, blieben von ihr zurück. Thomas dachte daran, wie sie an jenem Morgen die Stadt durchquert hatte, um zu ihnen zu gelangen, wie sie Stunden in diesen schönen Schuhen marschiert sein musste, in ihrem besten Kleid. Hatte sie vorgehabt, seine Mutter oder ihn um Hilfe zu bitten? Juden wandten sich dieser Tage an jeden, den sie kannten. Wahrscheinlich war ihr eingefallen, dass er für eine amerikanische Firma arbeitete.
In der ersten halben Stunde hatte er sich um den Leichnam von Frau Stein gekümmert, hatte den Schaden in der Wohnung ermessen, seine nächsten Schritte geplant, aber nicht gewagt, sich dem Zimmer seiner Mutter zu nähern. Eine Stimme in seinem Kopf gellte, dass er sich in Gefahr befand – gewiss würde er erklären müssen, warum sich eine Jüdin in seinem Haus aufgehalten hatte. Doch wenn er jetzt seine Mutter tot sähe, wäre jede Chance vertan, einen klaren Kopf zu behalten.
In den Minuten, die zwischen dem Zusammentreffen mit Hermann und seiner Horde und seinem Hinaufstürmen der Treppe verstrichen waren, hatte er bereits gewusst, dass seine Mutter nicht mehr am Leben war. Seine Sinne waren schon als Kind geschärft worden. Wenn er von der Schule nach Hause kam und an die Tür klopfte, erkannte er am Klang der schweren Schritte von Frau Stein, ob seine Mutter zu Hause war oder nicht.
Der Arzt trat neben ihn und fragte: »Wo ist Frau Heiselberg?«
Thomas starrte auf den mit Federn und Mehl bedeckten Mann. Der Arzt schüttelte ihn und schlug ihn auf die Wange. Seine Hände waren feucht. Thomas fürchtete, die Feuchtigkeit könnte vom Blut der Frau Stein herrühren. Der Arzt schüttelte ihn erneut, diesmal grob. »Wo ist Frau Heiselberg?«
Er deutete auf den schwarzen Korridor, an dessen Ende sich die einzige in der ganzen Wohnung noch verbliebene Tür befand.
Der Arzt verschwand in dem Flur und tauchte einige Minuten später wieder aus der Dunkelheit auf. Thomas streckte eine Hand nach seiner Schulter aus und entfernte Federn von seinem Mantelkragen.
»Lassen Sie nur, Herr Heiselberg«, murmelte der Arzt.
Er erinnerte sich nicht, wie er in das Zimmer der Mutter gekommen war, vielleicht hatte man ihn dorthin geschleift. Sie lag im Nachthemd auf dem Bett. Die Leichenblässe hatte sich bereits auf ihrem Gesicht ausgebreitet. Ihr Kopf lag auf zwei Kissen, und ihr bemerkenswert wohlgeformter Hals war ein wenig gedehnt, in seltsamem Kontrast zu der Sorglosigkeit auf ihrem Gesicht. Ihre Hände waren auf der Brust verschränkt, und der untere Teil ihres Körpers war unter einem Laken verborgen. Er näherte sich vorsichtig ihrem Leichnam, versuchte seine Angst zu bezwingen. Er hätte sie niemals mit dieser Stein alleinlassen dürfen. Seine Finger krochen über das Laken und berührten ihren Arm. Ihre Finger waren noch kälter als ihre Haut. Er führte ihre Hand an die Lippen und hauchte sie an. Eine Weile stand er so, und in seinem Bewusstsein rumorten bereits die Fragen, die Erika Gelber ihm stellen würde: »Haben Sie sich mit einem Kuss von Ihrer Mutter verabschiedet? Haben Sie sich vor ihrem toten Leib gefürchtet?«
Schließlich hatte er einen wilden Schrei ausgestoßen, hatte die Angst abgeschüttelt und sich mit einer abrupten Bewegung über ihr Gesicht gebeugt, hatte flüchtig ihre Stirn geküsst und sich sogleich wieder aufgerichtet. Danach hatte er sich rückwärts bewegt, bis seine Hand die Klinke der Tür ertastete, war hinausgeschlüpft, hatte die Tür geschlossen und war in den unbeleuchteten Korridor getreten. Dort hatte er bis zum Morgengrauen gestanden, den Rücken an die geschlossene Tür ihres Zimmers gelehnt.
Am Morgen heuerte er Klarissa Engelhardt an, die junge Studentin aus dem ersten Stock, und beauftragte
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