Gute Leute: Roman (German Edition)
Chor.«
Shenja meint, er sei zu theatralisch. Er macht ihnen Geschenke zum Abschied: einen Hering für Shenja, ein Stück Schinken für Sascha.
Gegen Morgen kehrt sie nach Hause zurück. Ihr Vater sitzt mit einer Schachtel in den Händen da und sortiert Briefe. »Hattest du Spaß?«
»Ja, es war furchtbar nett.«
Ihre Mutter dagegen schimpfte wie immer: Wie kann sie es wagen, sich nachts draußen herumzutreiben, wo hat sie bloß ihren Anstand und ihr Herz gelassen? Und nun ist es ausgerechnet ihr Vater, der ihr Mut macht.
Eine Welle der Zuneigung für ihn überkommt sie, bis zu diesem Augenblick hat sie sich kaum Gedanken gemacht, wie es wäre, ihn zu verlieren, und jetzt erinnert sie sich, wie er eines Tages, schon nach seiner Entlassung, nach Hause gekommen ist, begeistert über die neuen Fenster in dem Institut, das ihn hatte fallenlassen. Seine Loyalität zu Menschen und Werten, die einmal seine Seele berührt hatten, war grenzenlos.
Im selben Moment sagte er: »Mach dir nichts aus Mamas Geschrei, sie leidet sehr. Die Eifersucht auf die Jugend ist wie Gift in den Adern.«
Früher hatte sie gedacht, falls ihnen einmal ein Unglück widerfahren sollte, würden sicher nur ihre guten Eigenschaften wie Treue und Liebe zum Vorschein kommen, doch jetzt schien es, dass Angst ihre Seelen vergiftete und jeder dem anderen die Schuld gab.
»Papa, wieso bist du jetzt noch auf?«
»Ich denke über mein Leben nach.«
Sie hört ein Schiffstuten von der Newa, hört Veras Kinder mit frischen Stimmchen ein Lied krakeelen. Durch die Schlitze der Fensterläden sieht sie Rußwolken dahintreiben. Ihr Nachthemd ist feucht und schmutzig. In ihrem Magen ballt sich ein dumpfer, flüchtiger Schmerz, vielleicht Hunger. Sie schluckt ein bisschen bitteren Speichel und benetzt damit ihre trockenen Lippen. Sie schläft und ist doch wach, und ausgerechnet jetzt türmen sich die Erinnerungen auf.
Sie steigt die Stufen empor, an denen Weißkohlblätter und Gurkenschalen kleben: Der geräumige Salon in Großvaters Haus ist vollgestellt mit verblichenen Samtmöbeln, und vier riesige Spiegel ragen dort fast bis an die Zimmerdecke, vorgeneigt, mit einem oberen Abstand von der Wand, als verneigten sie sich vor dem Raum. Aus dem Fenster sind enge Gassen zu sehen, in denen sich Krämerläden und Werkstätten aneinanderdrängen, in denen es nach Pech riecht, nach Kesselflickern und Schustern, und Großvater sieht hinaus und zupft an seinem Bart: »Das ist neu, liebe Leute, man hat mir meinen Ausblick gestohlen. Seit die Bolschewiken die Macht an sich gerissen haben, tauchen hier Ratten auf, die sich als Menschen verkleiden, und beherrschen die Straße. Viele Juden«, er wirft einen Blick auf ihren Vater, »Raufbolde aus Woronesch und aus den Dörfern der Analphabeten, wo kein Zug je hält. Ich sage euch: In diesen Straßen, genau hier unter uns, ist nicht das Blut von Helden und Heiligen vergossen worden, damit alles mögliche Geschmeiß sich jetzt hier einschleicht und jede Erinnerung an unser St. Petersburg auslöscht.«
Ihr Vater schweigt. Großvater nennt ihn geringschätzig den »Intelligenzler«. Wohingegen ihr Vater den Großvater als den »Mörder von der Ochrana« bezeichnet.
Großvater jedoch ist stolz auf seine zwanzig Dienstjahre bei der Geheimpolizei des Zaren. Zu Sascha sagt er: »Dort haben wir uns bolschewikische Intelligenzler wie deinen Vater richtig vorgenommen. Aber zu meinem Leidwesen haben wir sie unterschätzt.«
Wenn es Zeit ist, sich zu verabschieden, wuschelt Großvater seinem Enkel Wlada, dem glühenden Pionier, durch die Haare und erklärt allen, wie naiv dieser Junge ist, der all diese bolschewikischen Märchen glaubt, die sein Vater, die Lehrer an der Schule und die Zeitungen ihm auftischen: »Kinder, Gott möge euch segnen, wenn ihr auf euren Vater hört, werdet ihr alle wie der Abschaum von der Narodnaja Volja enden, die unseren Zaren auf dem Gewissen haben.«
Einmal, als sie auf die Straße traten, zischte ihr Vater: »Wenn ich diesen Abschaum von der Ochrana sehe, beginne ich unsere Tschekisten in Leningrad zu mögen.«
Maxim Podolski und sie schlendern durch die Straße, eine Sommernacht, es ist schon spät, ein Uhr früh. Es ist angenehm draußen, ein leichter Wind weht, ihre Arme sind unbedeckt. Maxim erzählt, er habe von seinem Vater gehört, der es von irgendjemandem im Verwaltungsapparat gehört habe: Nach dem Tode Kirows habe man in Moskau beschlossen, mit harter Hand in Leningrad – der ewigen
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