Gute Leute: Roman (German Edition)
Fabriken in Gorlowka zu leiten. Sascha fragt sich, wie viel Aufrichtigkeit in dieser Schicksalsergebenheit wirklich liegt. Vielleicht hat auch Mama so eine Art Gefühl, dass ihnen nicht passieren kann, was anderen widerfahren ist. Denn sie sind ja nicht genau wie alle anderen, oder?
Beim Abendessen liest ihr Vater aufgeräumt vor – vielleicht wird das Schreiben am Ende ja helfen –, was im Buch der jüdischen Weisheiten geschrieben steht: »Es findet sich dir kein Grashalm, der im Himmel nicht sein Schicksal hat.«
Jetzt bist du plötzlich gottgläubig geworden, stößt Wlada hervor.
Als hätte er bloß auf eine Gelegenheit gewartet, beeilt sich ihr Vater, den Grundirrtum in Josts Werk zu erklären, der das jüdische Volk in alttestamentarischer Zeit einfach übergeht und direkt zu den Tagen der Hasmonäer springt.
Kaum ist das Abendessen beendet, bricht Sascha auf.
Mama sagt: »Wie kannst du es wagen, dein kleiner Bruder möchte so gern, dass du zu Hause bleibst.«
Wlada betrachtet sie mit einem Ausdruck von Gleichmut, in den sich eine Spur Resignation mischt. Sein Verdacht hat sich bestätigt: Von der leichtfertigen Schwester ist nichts zu erwarten.
Sie feiern bei Kostja, Shenjas Liebstem. Ein Bursche, der der Armee entronnen und noch nicht verhaftet worden ist, wahrhaftig ein Magier. Einer, der auf Schwarzmärkten, in Tanzhallen und teuren Restaurants zu Hause ist, der den ganzen Tag Billard spielt und ein Vermögen macht. Shenja bewundert ihn. Auch guten Wein hat er. Sie trinken, kichern und tanzen. Er drängt sich an sie beide, umfängt sie mit seinen Armen und hält ihnen eine Grundsatzrede: Genossinnen, seid ein bisschen weniger individualistisch, ein bisschen mehr dem Kollektiv verpflichtet, lernt endlich, es in Gruppen zu treiben. Sie küsst ihn, er drängt sich zwischen sie und Shenja, schlüpft unter ihren Pullover und ihr Unterhemd, leckt ihren Nabel. Seine Zunge ist warm, sie unterdrückt ein Stöhnen, hört ihre eigenen Atemzüge.
Die Wärme ist verschwunden. Sie sieht seinen Kopf sich unter Shenjas Pullover bewegen. Steht verlassen mitten im Zimmer und betastet die Stelle, an der sein Speichel auf ihrer Haut trocknet.
Shenja flüstert ihr verstohlen zu, dass er ihrer Meinung nach eine Todessehnsucht in sich trägt: Sie haben seinen Vater getötet, vielleicht will er auch sterben? Er hat Devisen und kauft bei »Torgesin« für Frauen, die er liebt, teure Kleider. Er hat schon in den berühmtesten Nachtklubs in Moskau gefeiert: im »Metropol«, im »National« und im »Savoy«, mit zahllosen Künstlern, Regisseuren und Architekten.
Dann sagt er: »Nadjeschda Petrowna? Noch nie gehört von einer solchen Dichterin. Die einzige Nadjeschda Petrowna, die mich interessiert, wohnt in Moskau und ist die beste Damenschneiderin in ganz Russland.«
Sascha ist amüsiert. Sie sagt zu ihrer Freundin: »Es ist wundervoll, dass du so außergewöhnliche Menschen kennst.« Und die beglückte Shenja verlangt von ihrem Galan, er solle nicht über deprimierende Themen sprechen, zählt Namen von Freunden auf, die man einladen könnte: aus der Schule, von der Zeitung, bei der sie arbeitet, aus dem »Café Europa«, verzweifelt sucht sie nach Menschen, die die Last mit ihr teilen könnten. Immerhin ist es nicht ungefährlich, hier in einem Raum zu sein mit zweien, die eine mehr als zweifelhafte Gesellschaft bedeuten.
Jetzt streckt Sascha sich auf dem Sofa neben Kostja aus, legt ihren Kopf auf seinen Bauch. Er neigt sich über sie, hebt ihren Kopf an und nähert seine Zunge ihren Lippen. Seine Hand tastet sich unter ihr Kleid vor. »Mit wie vielen Kerlen bist du schon zusammen gewesen?« Er haucht warme Luft in ihr Ohr.
Sie überhört die Frage. Geschmust hat sie schon mit einigen, auch mit Ossip Lewajew, aber geschlafen nur mit Podolski. Wohlbehagen breitet sich in ihren Gliedern aus, als seine Hand zwischen ihre Beine gleitet und zwei Finger sie berühren. Er lässt sie in einer behutsamen Bewegung kreisen, und in ihr erwacht das Verlangen nach einer totalen, starken Berührung. Aber nun beschwert sich Shenja: Sie will nach Hause und hat nicht vor, sie hier mit ihrem Verehrer allein zurückzulassen. Er erhebt sich, und sogleich stürmen wieder alle Sorgen auf sie ein, die in den letzten Minuten verschwunden waren.
An der Tür nimmt Kostja sie in den Arm und flüstert: »Gleich einem letzten Lauschen, gleich seinem Abschiedsgruß am Tor, grüßt mich dein wehmutsvolles Rauschen, dein leiser, nachdenklicher
Weitere Kostenlose Bücher