Gute Leute: Roman (German Edition)
Laken, ihr Blick geht zur Tür. Jetzt steht er dort, sein Körper füllt die Türöffnung aus, drängt das Licht zurück. Ihr Blick hebt sich, will ihn ganz erfassen, doch es gelingt ihr nicht.
Seine Schultern stützen seinen Hals wie zwei riesige Ziegelsteine, sein Haar ist durchwirkt von Spinnweben, die von der Zimmerdecke hängen. Ein Riese. Seine Bewegung auf sie zu ist gewaltig. Sie will schreien, du bist Maxim Adamowitsch Podolski, ich kenne dich, hör sofort auf mit der Maskerade! Sie schließt die Augen, schlägt sie wieder auf – und da steht er über ihr.
»Ist euch endlich eingefallen, eine Durchsuchung zu veranlassen?« Ihre Lippen brennen, ihre Kehle ist heiser.
»Erinnerst du dich an die Aufführung, die wir am Ende der Fünften gesehen haben?« In seiner Stimme schwingt Erregung mit, als hätte er lange auf diesen Augenblick gewartet.
Mit einem Mal fühlt sie sich glücklich. Wäre er gekommen, um ihr mitzuteilen, dass ihre Eltern tot sind, würde er nicht irgendeine Aufführung aus der Schulzeit erwähnen.
Sie schöpft Mut. Ich erinnere mich nicht, will sie sagen, du und ich, wir fegen Erinnerungen zusammen und häufen sie auf, und auch dieses Winken mit imaginären Dingen ist eigentlich nur eine andere Art der Erinnerung.
Er setzt sich auf das Bett. In der rechten Hand hält er eine Tasse. Taucht seine Finger in das Wasser und benetzt vorsichtig ihre Lippen. Danach stützt er sie im Rücken und gibt ihr behutsam zu trinken. Ein kleiner Schluck, Pause, ein Schluck, Pause.
»Ismene hatte recht«, sagt er leise. »Es ist töricht, mehr zu wollen als man vermag. Du hast nicht genug Kraft, dich gegen den Willen des Volkes zu stellen.«
Aus seinem Körper atmet die Stadt: knuspriges, frisches Brot, Bratfett und Asphalt, der Schweiß einer bevölkerten Straße, ein feuchter Ledermantel. Hunger überkommt sie, sie denkt an Brot mit Gänseschmalz und an die Fleischklopse im Haus ihrer Großmutter.
»Und du, Sascha, hast nur zwei Möglichkeiten: Zu sterben oder ein anderer Mensch zu werden.«
Zweiter Teil
Der künstliche Mensch
Leningrad, Herbst 1939
In die Atemzüge eines anderen Menschen erwachen. Sie hört ihn brummeln und Träume ausatmen. Früher war sie bereit, nächtelang gegen den Schlaf anzukämpfen, nur um eine Luke zu seinen Träumen aufzustoßen. In ihren gemeinsamen Juninächten, mit sechzehn, wenn sich vom Himmel gleißendes Licht über die Stadt ergoss, das die steinernen Brücken weiß schimmern ließ und sich mit dem Wasser des Flusses vermischte. Mitternacht und das sonderbare Gefühl, dass die Stadt ringsum nicht schläft, sondern ohnmächtig geworden ist. Sie liegen in einem Park oder unter einer Brücke, sogar auf dem Dach eines Hauses, tauschen wieder und wieder dieselben Geheimnisse aus, tun so, als ob sie sie noch nie gehört hätten, versuchen zu erraten, in welchem Fenster ein Gesicht auftauchen und den unbarmherzigen Schlag des Lichts empfangen wird. Manchmal ein paar Küsse, noch nichts Ernstes, und schon ist er eingeschlafen. Er gehört zu den Menschen, die, wenn sie sich hinlegen, egal wo, sofort einschlafen. Er versteckt sich im Labyrinth des Schlafes, und sie verhandelt mit seinem Körper: kneift ihn in den Arm, flüstert ihm Worte zu, errät seine Träume. Ein junges Mädchen, das in das Geheimnis des Schlafs verliebt ist, in seine Phantasie, die in ferne Sphären entschwebt, während sein Körper sich an den ihren drängt, sich sehnt nach dessen Wärme. Bist du wirklich dein Körper? In ihrem Bewusstsein immer dieselbe hartnäckige Frage.
Jetzt seufzt er, seine rechte Hand gräbt sich unter ihrem Rücken hindurch, um die andere Hand zu greifen, die auf ihrem Bauch liegt. Noch nie hat sie verstanden, wie es ihm auch im Schlaf gelingt, die Hand dorthin zu manövrieren – denn schließlich wehrt sie sich, drückt ihren Rücken fest gegen die Matratze. Dieses Spiel amüsiert sie: Es ist kurios, einen Menschen zu sehen, der auch im Schlaf eiserne Entschlossenheit zeigt.
Das Manöver endete stets mit seinem Sieg. Seine Hände schlossen sich um sie, sein Bauch presste sich an ihre Hüfte, seine Lippen drängten an ihren Hals. Jetzt hatte er sie gefangengenommen. Auch im Winter schlief er fast nackt, als forderte er von ihr, ihn vor der Kälte zu schützen. Manchmal schreckte sie zurück und rückte ab von ihm, wartete, dass er erschauderte, berührte die winzigen Erhebungen auf seiner Haut, erfreute sich an der Kälte, die ihn traf. Zuweilen war es so kalt, dass
Weitere Kostenlose Bücher