Gute Leute: Roman (German Edition)
hatte ihr Vater, als er von der ersten Vernehmung nach Hause zurückkehrte, erzählt, viel mehr als für Nadja hätten sie sich für das Physikalisch-Technische Institut interessiert, von dessen zehn Leitern bereits acht verhaftet waren, und sie hätten etwas über den »Vereinten Block« wissen wollen. Dennoch glaubte sie, wenn sie Podolski die Gedichte nicht ausgehändigt hätte, wäre ihr Schicksal anders verlaufen.
Draußen – die Stadt. Sie hört sie, ob sie will oder nicht. Sie hatte nicht erwartet, dass ihnen auf der Trauerkarte dieser Stadt – »durch blutüberströmte Fenster ist es manchmal schwer, Europa zu sehen«, wie ein anonymer Autor in einem als »Beschwerdebrief an den Genossen Puschkin« betitelten Artikel geschrieben hatte – ein besonderer Platz vorbehalten wäre. Es gab doch wirklich hervorragendere und mutigere Persönlichkeiten als sie. In einem Traum stand sie zu Füßen eines hohen Stuhls, auf dem Barabasch saß, der Besitzer des deutschen Frisiersalons, der immer im Anzug herumlief, um seiner Bedeutung Ausdruck zu verleihen. Barabasch, klagte sie, hat mein Vater Ihnen nicht geholfen, das Stahlwerk Magnitostroy im Ural zu planen? Hat er nicht Ihre Bitte abgelehnt, die Stickstoffproduktion in Gorlowka zu leiten? Und dann hat er uns noch gesagt: Leningrad ist die einzige Stadt für uns.
Könnt Ihr uns nicht helfen?
Solange sie zurückdenken kann, hat sie immer verhandeln müssen: Mama, ich komme spät wieder; nicht jetzt, Kolja, vielleicht nachher; Mädchen, zieh was an, komm nicht bloß in einem Handtuch aus dem Bad; Saitschik, wo bist du gewesen? Komm rechtzeitig zum Abendessen wieder.
Jetzt erlernt sie die Stille.
Zusammengekauert unter den Laken forscht sie nach Spuren, die Kolja zurückgelassen hat. Wenn sie sich der Aufgabe ganz und gar hingibt, spürt sie, dass sie etwas von dem Jungen einfangen kann. Ihre Finger tasten im Bett herum, stellen ihm nach, für einen Moment meint sie, die Mulde entdeckt zu haben, die sein Ellbogen hinterlassen hat, doch bald begreift sie, dass dies nur die Spuren ihres eigenen Körpers sind.
Tue ich etwas Unerlaubtes? Sascha erschrickt, er ist doch noch keine fünfzehn, oder? Das ist doch, wie mit einem Kind in einem Bett zu schlafen. Wenn er erst acht ist, dann ist es in Ordnung, nicht wahr, Mama?
Die Vorstellungsmaschinerie, die Bilder auslöst und Erinnerungen läutert, steht für einen Moment still, und die Berührung, die zwischen ihnen gewesen ist, wird aus ihrem Körper gesogen. Sie steht jetzt entleert zwischen dem glatten Fleckchen Haut, das sich noch immer dem Streicheln ihrer Finger hingibt, und seiner vollkommenen Abwesenheit. Das ist der Moment, in dem sich die Krallen des Verlustes in ihr Fleisch schlagen.
Luft. Röchelnd schnappt sie in der Dunkelheit nach Luft. Ein Atemzug und noch einer. Willst du tatsächlich ungeschoren hier rauskommen? provoziert sie sich selbst. Welches Leben hält die Zukunft für dich bereit?
Am Ende ist sie der Feigheit überdrüssig, schlägt das Laken beiseite, liegt, Arme und Beine ausgestreckt, in dem kalten Raum. Für einen Moment hat sie gehofft, ihr Bewusstsein würde schweigen, aber sogleich beginnt es wieder zu lärmen, vermischt ihrer beider Nächte hier, näht unzählige Erinnerungen zu einem Streifen zusammen.
Am Montag hatten ihre Eltern die Vorladung zu einer weiteren Vernehmung erhalten. Die ganze Woche sannen sie über den Verlauf ihres Lebens nach, durchforsteten es, machten es reisefertig.
Sascha liegt im Bett, während sich draußen der Abend herabsenkt. Auch sie sinnt über den Verlauf ihres Lebens nach.
Papa und Kolja sind beschäftigt. Sitzen am Schreibtisch, Papa diktiert einen Brief an die oberste Wirtschaftskommission. Besser handschriftlich als mit der Maschine geschrieben. Papa wird rot, als er sich in Lobeshymnen auf seine Treue zur Partei und die Neuerungen ergeht, die er am Institut eingeführt hat.
Wlada steht am Fenster. Er war es, der vorgeschlagen hat, Kolja solle den Brief schreiben, weil seine Handschrift rund und rührend sei und sie es bitter nötig hätten, dass ein Herz dort in Moskau sich ihrer erbarmen würde. Doch jetzt, da er Koljas Zufriedenheit registriert und seine Stimme hört, die prahlt wie die Stimme eines kleinen Beamten, der zum Geheimnisträger wird, verdüstert sich seine Miene.
Am Schrank ordnet Mama Papiere, und zu Sascha sagt sie laut, die Angelegenheit sei erledigt, das Urteil unterzeichnet, Papa hätte das Angebot annehmen sollen, die
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