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Gute Leute: Roman (German Edition)

Gute Leute: Roman (German Edition)

Titel: Gute Leute: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nir Baram
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mit einer Kugel in der Brust, wie sein Lermontow. Heute ist er der Held in einer Tragödie.«
    Sascha überlegte, ob sie sich anziehen und in Podolskis Büro eilen sollte, um ihm zu erzählen, wie sie einander hier das Leben zur Hölle machten, begriff aber, dass das keinen Zweck hatte. Fraglich, ob er sie überhaupt empfangen würde. In den letzten Tagen war der liebe Maxim verschwunden und nirgends zu finden gewesen.
    Plötzlich wollte sie, dass all dies vorbei wäre, dass man ihnen den Prozess machte – schließlich hatten sie sich ja eines Vergehens schuldig gemacht – und rasch die Strafe verhängte.
    Auch am Nachmittag verfolgte Valeria ihren Gatten mit kleinen Aufträgen. Sie verlangte, er solle sich um Brot anstellen, schickte ihn zur Näherin, nötigte ihn, bei den Nachbarn um Streichhölzer zu bitten, und als er von dort zurückkam, fragte sie ihn, ob er nicht die Laken ausschütteln wolle. Er wirkte erschöpft und gereizt, und seine Lippen formten irgendeine Erwiderung, die kein Mensch verstehen konnte. Schließlich erlaubte sie ihm, wieder ins Bett zu gehen.
    Er zog seine alte Jacke aus, die mit dünnem Ziegenfell gefüttert war, strich mit den Fingern über das Fell und schien von jedem Fleck und jeder Naht Abschied zu nehmen. Sascha wollte ihn schon fragen: Hast du es ihnen erzählt? Hast du erzählt, dass diese Jacke ein Geschenk des Arztes aus der Division von Kikabidze ist? Das muss doch etwas wert sein. Aber er ließ sie stehen und legte sich ins Bett, umgeben von den »jüdischen Büchern«, die er sich unter großen Mühen heimlich beschafft hatte und deren Titel, glaubte man ihrer Mutter, alle »genau gleich« klangen: »Die jüdischen Altertümer« von Josephus Flavius, »Geschichte der Juden von Jesus Christus bis heute« von Jacques Basnage, »Geschichte der Israeliten seit der Zeit der Maccabäer bis auf unsere Tage« von Isaac Markus Jost und Heinrich Graetz’ »Geschichte der Juden. Von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart«.
    »Vor einem halben Jahr hat er nicht mal gewusst, dass er Jude ist«, spottete Valeria so laut, dass es auch im Schlafzimmer zu hören war, »und jetzt gibt es für ihn nur noch jüdische Geschichte. Zu allem Überfluss liest er diesen hugenottischen Franzosen, diesen Basnage, auch noch mit Wörterbuch. In fünf Jahren wird er vielleicht in der Gegenwart angelangt sein … Er redet über die Knechtschaft in Ägypten, über das babylonische Exil, über die Katholiken aus Spanien, Kischinew, die Pogrome der ›Schwarzen Hundertschaft‹, Petljuras Armee, die Dreyfus-Affäre in Frankreich und den Prozess gegen Mendel Beilis aus Wassilkow. Ein Hasenfuß wie er kann tatsächlich von einem Augenblick zum anderen zu einem frommen Gottgläubigen werden. Offenbar hat er endlich kapiert, dass seine Geschichten über den Bürgerkrieg, in dem er an sämtlichen Fronten gleichzeitig war und allen unseren Helden auf einmal begegnet ist, den NKWD nicht wirklich interessieren. Und jetzt gibt er dem jüdischen Schicksal die Schuld, das ja immer in einer Katastrophe endet.«
    Mit fiebriger Inbrunst verspottete sie ihren Gatten, nicht weil sie es ihm heimzahlen wollte, sondern weil sie hoffte, ihn so aus ihrer Seele zu reißen.
    Sascha wollte mit ihr über dringlichere Angelegenheiten sprechen. Vor allem wollte sie sich mit ihr beraten, wie die Zwillinge zu schützen wären, prallte jedoch an einsilbigen Vertröstungen ab wie »Nicht jetzt, Saitschik«.
    Das war eine von Valerias Begabungen: Sie konnte bestimmte Themen, zuweilen ganze Lebensabschnitte, in den Tiefen ihres Bewusstseins begraben. Jahrelang hatte sie ihren Mann und Nadja dort versteckt gehalten, und auch jetzt gelang es ihr, sich jeder Diskussion über das Schicksal ihrer Söhne zu entziehen. Allem Anschein nach konnte sie die Zukunft, die ihren Kindern bestimmt war, nicht ertragen.
    Sascha begriff, dass Wlada wohl der einzige Mensch war, mit dem sie reden konnte.
    ***
    Das letzte Wochenende im März.
    Sie liegt in ihrem Bett wie in einem Sarg. Sie ist alleine zurückgeblieben.
    Züge sind aus Leningrad abgefahren, niemand weiß, wohin, und darin die Menschen, die in dieser Wohnung gelebt haben. Albträume bringen sie um den Schlaf, und in den wachen Stunden quälen sie Erinnerungen und Schuld. Zuweilen erklingt aus dem Stimmengewirr in ihrem Hirn klar und hell eine Anklage von Nadjas heiserer Stimme: »Bist du es gewesen, verfluchte Göre, bist du es gewesen, die dieses Unglück über uns gebracht hat?«
    Zwar

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