Gute Leute: Roman (German Edition)
Bastion der Prahlerei, des Aufruhrs und der Opposition – aufzuräumen.
Maxim nimmt sie in den Arm: »Es warten schwere Tage auf uns, Sascha.«
Sie schüttelt die Decken ab. Staub droht ihr in die Augen zu dringen. Sie presst die Lider fest zusammen, zu spät, schon tränen sie. Sie träumt, dass die Nachbarn sich in ihrem Zimmer drängen, einer von ihnen hält eine Lampe in der Hand. Im gleißenden Licht zeigt sich auf ihrem Körper eine Schicht aus Staub und Ruß.
»Es lässt sich nicht wegwischen«, schreien sie, »aller Staub und Ruß Leningrads klebt an dir. Das muss abgekratzt werden, doch es tut uns leid, wir haben hier nicht die passenden Gerätschaften.«
»Könnt ihr keine kaufen?« Sie fleht: »Unten sind Geschäfte, Mama gibt euch das Geld wieder.«
Die Lampe leuchtet noch immer, doch die Traumbilder sind verschwunden, die Stimmen sind dumpfer jetzt, als wäre der Traum abgefahren, als wäre er schon ein ganzes Stück aus dem Bahnhof hinaus.
Das letzte Abendessen. Mama trinkt Kaffee und Benediktinerlikör und macht den Ermittler Resnikow nach: »Sehen Sie, Genossin Weißberg«, kräht sie, »im Privatleben geschieht es zuweilen, dass ein Mensch sich an seinem besten Freund versündigt. Dafür gibt es alle möglichen Gründe. Es kann ja sein, dass Sie in Wahrheit gar keine Volksfeindin sind, vielleicht haben Sie nur in Kontakt gestanden zu echten Feinden unseres Volkes, die Sie beeinflusst haben!« Die Zwillinge lachen und spießen mit ihren Gabeln Schinkenstücke auf. »Und wenn ein Mensch seine Fehltritte eingesteht, kann sein bester Freund ihm durchaus vergeben, kann das Verhältnis zwischen ihnen wieder hergestellt und sogar noch besser werden. Setzen Sie sich ein paar Tage zu Hause hin, und denken Sie über Ihr Leben nach.«
Eine Stunde vergeht. Papa und die Zwillinge machen ein Ratespiel: Papa fragt, bei welcher Temperatur alle möglichen Sachen schmelzen, und die Zwillinge raten. Sascha zieht sich in ihrem Zimmer um. Sie lauscht auf die Stimmen der Spieler, die von Sorglosigkeit künden, wie losgelöst von den letzten Ereignissen. Nun gut, es wird nicht geheult, wenn man fertig geschminkt ist.
Ein Sommer in Varlamows Garten. Nadjeschda deklamiert einige Sätze aus einem Artikel, den sie vielleicht als Replik auf Ostrowskis Buch schreiben wird: »›Wann ist der Stahl brüchig geworden‹, fragt ihr. Ich sage es euch: Mit Hilfe eines Ozeans aus beschissener Fabrikliteratur, dem größten Dreck seit den Tagebücher Dschingis Khans, eine Literatur, die die russische Kultur auf Eidechsenniveau hat verkommen lassen. Heutzutage haben Affen eine fortschrittlichere Kultur als wir. Russland ist voller Bücher, Petitionen und Artikeln von Mücken, die sich als Schriftsteller ausgeben und unentwegt surren: Die Verräter exekutieren, die Hunde erschießen! Und unsere neuere Geschichte? Eine einzige große Lüge. In den Büchern schreiben sie: ›Stalin setzte Lenins Befehle in die Tat um und führte die Regimenter der Bolschewiki an‹, ›Stalin im Krieg gegen die Weißen in Zarizyn, in Rostow‹, ›Stalin besiegt Denikin‹, überall nur Stalin. Wir werden die russische Kultur neu errichten müssen.«
Varlamow hustet, Nadjeschda schaut in die Runde, erheischt eine Antwort, giert nach Zuneigung. Er hat gar keine Tagebücher geschrieben, der Khan? Sie stottert, nun gut, Geschichte ist ohnehin so schrecklich langweilig, und schnell wechselt sie das Thema und möchte über die Schlaflosigkeit der Petersburger reden: Keiner kann hier nachts schlafen – die schwarzen Limousinen, die weißen Nächte, das Tuten der Schiffe, der Qualm und Ruß aus den Schornsteinen, zu viele Fabriken. Alle springen auf und steuern dankbar eigene Beispiele bei: Der Staub im Sommer und der erste Regen, die Herbstwinde, die einem die Knochen austrocknen, immer meint man, in einem verfluchten Wirbel zu stecken. Dann wieder Nadjeschda: Und wenn du endlich Schlaf findest, gleitest du durch europäische Träume – Paris, Rom und Berlin –, bis es wie ein Peitschenhieb kommt, das jähe Erwachen, das Sich-Abfinden: Dein Schicksal ist hier.
Abend. Wlada zerteilt Gurke, schneidet Brot, hat auch Wurst besorgt.
»Erwarte nicht, dass Mama und Papa so schnell wiederkommen«, sagt er. »Sie werden ein paar Jährchen im Gulag bekommen. Die Sabotageakte im Institut sind schlimmer als die von Pjatakow, offenbar weil die Faschisten ihre Finger im Spiel haben. Schon seit geraumer Zeit sage ich, dass der Pakt zwischen Verrätern und
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