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Gute Leute: Roman (German Edition)

Gute Leute: Roman (German Edition)

Titel: Gute Leute: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nir Baram
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faschistischen Infiltranten uns um viele Jahre zurückwerfen kann.«
    Niemand sagt etwas.
    »Klar ist, dass Papa mit der Angelegenheit nichts zu tun hat«, versucht er zu beschwichtigen, wie immer, nachdem er für Entsetzen gesorgt hat. »Papa ist einfach in die Schusslinie geraten. Offenbar hat irgendeine Kanaille Geschichten über ihn erzählt.«
    Niemand sagt etwas.
    »Sonderbar nur, dass sie noch keine Hausdurchsuchung gemacht haben«, er schaut Sascha forschend an, »sonst kommen sie immer gleich, wenn sie einen verhaften, oder sofort danach. Irgendjemand dort scheint sich ein bisschen um uns zu kümmern. Aber hier ist ohnehin nichts zu finden, ich hab’s kontrolliert, Mama und Papa hatten genug Zeit, sich vorzubereiten. Sogar das Buch von Balmont haben sie weggeschafft.«
    Kolja sitzt neben ihr. Sie ist es leid, ihn zu trösten. Den ganzen Tag hat sie ihn im Arm gehalten.
    Vier-sechs-acht-zehn Uhr.
    Die Eltern sind von der Vernehmung nicht zurückgekehrt. Sie klammert sich an die Hoffnung, dass Podolski sie über ihr Schicksal informieren wird, aber schon seit zwei Wochen hat er sich nicht mehr blicken lassen. Nachts im Traum sieht sie seinen eingeschlagenen Schädel über eine der Newa-Brücken rollen.
    Sie stellt sich die Last der Zeit vor, all diese Sekunden und Minuten bis zum Abendessen, bis zum Schlafengehen. Wenn Kolja nicht bald einschläft, verliert sie den Verstand. Sie zittert bei dem Gedanken, dass morgen wieder ein langer Tag anbrechen wird, mit so vielen Stunden, Minuten und Sekunden. In jeder eine Falle, die man vorsichtig umgehen muss, nur um sogleich auf eine neue zu stoßen.
    Eine Tür wird zugeschlagen, sie erwacht, es ist tiefe Nacht, die Erkenntnis, dass die Eltern nicht in ihrem Zimmer schlafen, überfällt sie. Die vierte Nacht ohne sie. Jetzt hat sie sich mit der Tatsache abgefunden, dass ihr Verlust hinter jedem Erwachen auftauchen wird. Zu ihrer Erleichterung ist sie allein in ihrem Bett. Eine Silhouette neben der Tür.
    »Brodskis Haus ist abgebrannt, Serioscha und ich haben geholfen, das Feuer zu löschen.«
    »Ist alles verbrannt?«
    »Ein ordentliches Feuer eben.« Wladas Stimme hat einen unbekümmerten Klang. »Offenbar irgendeine Sache mit Kerzen, du kennst ihn ja, schrecklich zerstreut, immer die Nase in seinen Büchern.«
    »Geht es ihm gut?«
    »Er schlottert wie ein Karnickel, ist aber unverletzt. Ich hab ihm gesagt, dass unsere Wohnung bald frei wird, damit er sich schon mal bereit macht, sie sich unter den Nagel zu reißen. Ich hab ihm gesagt, wir verstünden, wie schwer es für ihn sein muss, in einer Wohnung mit noch zwei Paaren zu wohnen, und wenn es uns bestimmt sein sollte, die Wohnung zu verlieren, würden wir uns wenigstens mit dem Wissen trösten, dass sie einem so treuen Freund wie ihm in die Hände fallen wird.«
    Der letzte Morgen. Wlada schwelgt in Geschichten und Prahlereien über den Brand in Brodskis Wohnung, über den Qualm, der die Sterne und den Mond verdunkelt habe. Sascha macht Kolja seinen Grießbrei und Wlada eine Scheibe Brot mit Marmelade. Wie kommt es, dass sie an jenem Tag so unbesorgt ist? Offenbar hat sie erwartet, wenn jemand die Zwillinge abholen wollte, würde dem eine ordentliche Mitteilung vorausgehen.
    Fünf Uhr am Nachmittag. Sie sind nicht nach Hause gekommen. Sie eilt zur Schule. Der Direktor empfängt sie auf dem Flur, besteht darauf, dass mehrere Lehrer Zeuge des Gesprächs werden, erzählt, draußen hätten zwei Genossen vom NKWD mit schriftlichen Beschlüssen gewartet und sie in einen Wagen verfrachtet. Sie hätten nicht gesagt, wohin sie sie bringen, doch er nehme an, es handele sich wie in anderen Fällen auch um eine Einrichtung für Kinder, deren Eltern verhaftet worden sind. Er habe jedoch keinen Zweifel, dass sich die Angelegenheit zur allgemeinen Zufriedenheit regeln werde. Auf jeden Fall sei es unmöglich, junge Menschen ohne reife und feste Hand sich selbst zu überlassen.
    Möglich, dass sie noch gesagt hatte: »Danke, Herr Direktor.«
    Später irgendwann erwachte sie in ihrem Bett.
    Wie viele Tage ist sie schon dort? Sie spannt ihre Muskeln an, erwägt aufzustehen, doch sogleich erhebt sich aus ihren Gliedern der Protest: Jetzt willst du Bewegung? Sie bleibt im Bett. Wie viele Tage ist sie schon dort? Nacht-Morgen, Nacht-Morgen, und vielleicht noch zwei weitere Tage. Sie hört Schritte und erkennt sie sogleich: Das ist er. Im Flur wird das Licht eingeschaltet. Sie will sich bewegen und kann nicht. Ihr Kopf liegt auf dem

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