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Gute Leute: Roman (German Edition)

Gute Leute: Roman (German Edition)

Titel: Gute Leute: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nir Baram
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sie meinte, die Wände, die sie schützten, seien verschwunden und nur noch die dunklen Bäume, die des Nachts wild hin und her schwankten und Schneeklumpen abwarfen, begrenzten die Wohnung.
    Wie einfach und leicht die Beziehung zu einem schlafenden Körper ist. Als kleines Mädchen hatte sie oft geträumt, sie zöge durch eine Welt, die ganz und gar dem Schlaf anheimgefallen war, machte Bettler zu Königen, stürzte Fürsten und verletzte den bösen Gärtner, wobei ihr immer klar war, dass sie die Dinge wieder in ihren vorherigen Zustand versetzen musste, ehe alle erwachten. Sie hatte Nadja von dem Traum erzählt, und die Dichterin hatte aufgebracht gesagt: »Mädchen, nicht einmal im Traum wagst du, die Ordnung umzustürzen?«
    Jeden Morgen erschien ihr das langsame Hellwerden des Zimmers wie eine Bewegung, die gegen sie gerichtet war. Wohl spielte sie die Hausherrin in diesen vier Wänden, hatte auch an der Stellung der Möbel einiges verändert, bis es ihr gefiel, doch hielt sie beständig Ausschau nach Erinnerungen an das Zuhause, das auf immer verloren war. Häufig wachte sie nachts auf mit einem Gefühl der Beklemmung, das ihr die Luft abschnürte, erhob sich und streifte durch die Wohnung, suchte nach dem vertrauten Flur, dem Salon, dem Sofa am Fenster, bis sie schließlich begriff, dass es nicht Kolja war, der in ihrem Bett lag, und dass im Salon zwischen den beiden Bücherschränken kein schwarzes Klavier mehr stand. Sie schleppte sich von einem Verlust zum nächsten, berührte die Möbel in der neuen Wohnung, schließlich akzeptierte sie den Verlust. Denn welche Art Mensch sollte sie sein ohne ihn?
    Die Minuten verrannen, im Zimmer wurde es hell. Der erste Gegenstand, der aus der Dunkelheit hervortrat, war das Bild an der Wand, gegenüber dem Bett. »Der Exekutionsplatz, am Morgen der Hinrichtung des Zarenregimes« – beide hatten sie dieses Bild schon zu Schulzeiten geliebt. Einmal in der Woche pflegten Maxim und seine Klassenkameraden die Hinrichtung auf dem Roten Platz nachzuspielen, häuften Holzbohlen auf, damit sie aussahen wie das erhöhte Podest auf dem Bild. Podolski verkörperte manchmal den Richter und manchmal den Henker. Der Richter hatte die Anklageschrift zu verlesen, worauf ihm vielstimmig zugejubelt und das Urteil bestätigt wurde. Inzwischen hatten sich Scharen von Kindern um ihn versammelt. Mädchen durften nicht dabeisein – nur sie selbstverständlich. Zwei Kinder hielten den zitternden Klassenkameraden fest, der an der Reihe war, den verhassten Tyrannen zu geben, und der Scharfrichter zog den Strick so eng um seinen Hals, dass der Kleine husten musste. Das Bild, eine billige Reproduktion, war ihr erster gemeinsamer Kauf. Sie hatten gelacht, als sie sie aufgehängt hatten, hatten auch gelacht, als sie an die Toilettentür eine Karikatur klebten, die Podolski bei der Durchsuchung der Behausung irgendeines Provokateurs gefunden hatte: Stalin und sein Gefolge laufen Schlittschuh auf gefrorenen Leichen. Beide konnten sich über die abgedroschenen Witze aus den Tagen Jeshows amüsieren: Ein schnaufender Elefant kommt an die Grenzkontrolle. »Ich muss von hier verschwinden«, drängt er die Grenzer. »Warum?«, wundern die sich. »Nu, schnell, schnell, habt ihr nicht gehört, dass der NKWD Russland von Schafen säubert?«
    »Aber du bist doch ein Elefant.«
    »Erzählt das mal Jeshow …«
    Wie graut der Morgen in ihrem Fenster? Anfangs verstohlen, langsam die Wände hochkletternd, bis er plötzlich die Nacht verschlingt. Dann wacht Maxim auf. Gähnt, seine Zunge ist belegt, er reckt die Arme, und seine Brust dehnt sich. Sie eilt zum Samowar in der Küche, um Tee zu kochen, setzt sich an den in fröhlichem Orange bemalten Holztisch, neben den anderen freien Stuhl. Sie hört das Wasser blubbern in dem silbernen Samowar, einem »Hochzeitsgeschenk für das junge Paar« von Stepan Kristoporowitsch und den Mitarbeitern der Abteilung 2. Gleich wird der Pfiff ertönen, werden die vier kleinen Füße zu tanzen beginnen. Manchmal hüpfen sie eine ganze Handbreit, bis das Wasser kocht. Sie erhebt sich, füllt zwei Tassen und setzt sich wieder. Im Schlafzimmer tappen nackte Fußsohlen, dann ist Wasserrauschen zu hören und das Geräusch eines über die Haut schabenden Rasiermessers, das ihr immer einen Schauder über den Rücken jagt. Schließlich, nach ein paar Minuten, erscheint ihr Mann, frisch gewaschen, angekleidet und parfümiert, lässt sich geschmeidig und mit einem gewinnenden Lächeln

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