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Gute Leute: Roman (German Edition)

Gute Leute: Roman (German Edition)

Titel: Gute Leute: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nir Baram
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auf dem Stuhl neben ihr nieder.
    »Guten Morgen, Liebste«, ruft er.
    Er liebt den Morgen, wacht voller Tatendrang auf, bereit, sofort loszustürmen. Erst später zehren die zerfließenden Stunden seine Kräfte auf: Der neue Tag wird niemals seinen Erwartungen gerecht, und am Abend schleppt er sich müde und nachdenklich nach Hause. Und sie? Ihr flößt der Morgen panische Angst ein, denn sie braucht mindestens eine Stunde, um sich für den neuen Tag zu wappnen. Erst dann verflüchtigen sich ihre Ängste, spürt sie neue Kraft, und wenn sich der Abend herabsenkt, bekommt sie Lust, in ihrem schönsten Kleid zu flanieren, mit Maxim Arm in Arm durch die Straßen zu spazieren, bewundernde Blicke auf sich zu ziehen.
    Ihr Mann schiebt sich einen Zuckerwürfel in den Mund und lutscht daran. Manchmal ist dieses schlürfende Lutschen der erste Missklang, der am Morgen an ihr Ohren dringt. In der ersten Woche in der neuen Wohnung hatte sie noch das Radio eingeschaltet, wenn er geräuschvoll den Zucker lutschte. Eines Morgens zitierte der Radiosprecher eine Passage aus einer Rede Stalins aus dem Jahre 1935: »Unser Leben ist besser geworden, Genossen, unser Leben ist fröhlicher geworden.« Danach hatte sie beschlossen, sich an das Lutschen zu gewöhnen.
    Er schaut sie an und schlürft laut seinen Tee. Von seinem formvollendeten Oberlippenbart lösen sich ein paar Tropfen. Das ist das Zeichen für sie, ins Badezimmer zu verschwinden, sich mit kaltem Wasser zu waschen, einen verwaschenen Rock und eine beige Bluse anzuziehen und ihr Haar zu einem strengen Zopf zu flechten. Sie schminkt sich nicht, abgesehen von einem blassen Hauch Lippenstift. »Genossin Weißberg, Sie dürfen sich nicht herausputzen, wenn Sie zur Arbeit erscheinen«, hatte Stepan Kristoporowitsch, der Leiter der Abteilung, zur ihr gesagt.
    Es ist bereits kurz nach neun. Von der Straße ist ein viermaliges Hupen zu hören. »Er hupt ausgiebig heute Morgen, Stepan Kristoporowitsch …«, murrt Maxim, der einzige im Büro, der darauf besteht, den Abteilungsleiter mit seinem Namen und dem seines Vaters anzusprechen. Jeden Morgen verfinstert sich sein Gesicht bei diesem Hupen, ein erstes Anzeichen dafür, dass dieser Tag sich nicht von seinen Vorgängern unterscheiden wird.
    »Ich bin noch nicht fertig«, ruft sie und eilt ins Schlafzimmer, klemmt sich die Tasche und einige Akten unter den Arm und ist schon an der Tür. Sie eilt die Treppe hinab, winkt dem Jungen zu, der dort hockt und feierlich und wütend aussieht. Er hält ein mit bunten Bändern verschnürtes Päckchen in den Händen. »Ein Geschenk für eure Lehrerin?«, fragt sie. Er antwortet nicht. Diesem Knaben würde eine ordentliche Tracht Prügel nicht schaden.
    Die schwarze Limousine wartete am Ende der Tordurchfahrt auf sie. Wenn der Wagen dort parkte, mussten die Bewohner des Gebäudes jeden Morgen durch die schmale Lücke schlüpfen, die zwischen dem Wagen und der Hauswand verblieb, um auf die Straße zu gelangen. Selbstverständlich beschwerte sich niemand. Jedes Mal fragte sie sich, ob Stjopa diese Menschen überhaupt sah oder nicht.
    »Einen guten Morgen der Frau Chefredakteurin im Verlag des NKWD in Leningrad«, rief ihr Vorgesetzter fröhlich. Das war seine Standardbegrüßung. Jetzt war sie an der Reihe, es klappte wie einstudiert: »Die besten Geschichten des Lebens, die niemals veröffentlicht werden«, deklamierte sie.
    Ein Lächeln breitete sich auf Stjopas Gesicht aus. Auch nach vier Monaten freute er sich noch seines Scharfsinns, mit dem er ihre Fähigkeiten erkannt hatte.
    Vom Fenster ihrer Wohnung im vierten Stock behielt Maxim den Wagen im Auge. Die neue Gepflogenheit des Abteilungsleiters, sie morgens abzuholen, gefiel ihm nicht. Von Vorgesetzten sollte man Abstand halten, sonst freundete man sich am Ende noch mit ihnen an – was zu überflüssigen Scherereien führen musste. Aber beiden war klar, dass sie keine Wahl hatten. Maxim Podolski, der Mann, der sie seinen eigenen Worten zufolge von den Toten zurückgeholt hatte, war gezwungen worden, einen neuen Patron zu akzeptieren, und noch dazu einen, der ihm jedes Mal, wenn sie einander begegneten, unendlich freundlich auf die Schulter klopfte und spöttisch verkündete: »Junger Genosse Podolski, man ist dort oben sehr zufrieden mit Ihrer Arbeit.«
    »Genossin Weißberg, Sie sehen müde aus«, sagte Stjopa. »Eine harte Nacht?« Er zwinkerte ihr zu.
    »Es geht mir gut, Genosse Merkulow«, erwiderte Alexandra.
    »Sehr schön«,

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