Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gute Leute: Roman (German Edition)

Gute Leute: Roman (German Edition)

Titel: Gute Leute: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nir Baram
Vom Netzwerk:
Stjopa rekelte sich auf seinem Sitz. »Jetzt bekommen Sie eine lustige Geschichte zu hören: Gestern ruft mich Resnikow an und sagt zu mir: ›Sind Sie Punin? Hier spricht der NKWD, bitte finden Sie sich morgen früh um elf in unserem Büro ein, Zimmer 229, der Passierschein wird am Tor bereitliegen.‹ Und ich sage in dem flehenden, stotternden Ton der armen Wichte, die begreifen, dass wir ihnen auf den Fersen sind: ›Genosse NKWD, ich bin ein anständiger und verlässlicher Bürger, ich habe nie etwas Unrechtes getan … Und außerdem, meine Tochter Natalja heiratet morgen.‹ Da kriegt unser Freund Resnikow einen Wutanfall und brüllt: ›Wir werden noch sehen, wie verlässlich du bist, von mir aus kann deine Mutter morgen zweimal beerdigt werden‹, und wirft den Hörer auf die Gabel.
    Danach rufe ich Resnikow an und sage: ›Hier spricht der Abteilungsleiter. Erstens, Sie müssen lernen, gewählter mit den Bürgern zu sprechen.‹ Er kapiert, dass er irrtümlich mich angerufen hat, und fängt an zu hecheln wie ein Hund. ›Und zweitens‹, frage ich ihn, ›hat dieser Punin Töchter?‹ Er schweigt einen Moment und stottert: ›Ja … zwei.‹ ›Und ihre Namen?‹ ›Eva und Jelena.‹ ›Also gibt es gar keine Natalja? Nun gut, nicht weiter schlimm, dass Sie da geschlampt haben, Genosse Resnikow, aber der NKWD spricht nicht. Den Vorschriften nach müssen Sie sich mit Ihrem Namen melden, wir wollen doch nicht, dass die Bürger in uns etwas Unmenschliches sehen. Und die Mutter von diesem Punin, der noch nichts gestanden hat, gleich zweimal beerdigen?‹«
    Er lachte und schlug mit der Hand auf seinen Sitz. Auch der Fahrer ließ ein schnarrendes Lachen hören. Sascha schenkte Stjopa einen dankbaren Blick und spürte, wie sich ihr Körper an der Demütigung Resnikows erwärmte.
    Jeden Morgen überschüttete der Abteilungsleiter sie mit amüsanten Geschichten, die von diesem oder jenem Fehler des Apparates berichteten – vor allem Briefe, Protokolle, Befehle und Telefonate, die den falschen Adressaten erreicht hatten.
    Stepan Kristoporowitsch Merkulow war ein stämmiger, aber überraschend beweglicher Mann mit stark gerötetem Gesicht. Zumeist lag darauf ein freundlicher Ausdruck, und allgemein fühlten sich Menschen wohl in seiner Gesellschaft und tauschten gerne Klatsch mit ihm aus, wobei sich aber auch mancher in ihm täuschte. Wenn er zum Beispiel begann, mit der Hand über sein Hemd zu streichen oder sich für die Möbel im Raum zu interessieren, war es höchste Zeit zu verschwinden. Gegen Menschen, die diesen Fingerzeig nicht verstanden, hegte er einen Groll, der so lange anhielt, bis er sich an ihnen schadlos gehalten hatte, und wenn es Monate dauerte. Ja, generell gab es nichts, was sich in Stepan Kristoporowitschs Welt je in Wohlgefallen aufgelöst hätte, weshalb er es auch niemals für nötig hielt, auf die Beschwerden seiner Untergebenen oder die Konflikte zwischen ihnen rasch zu reagieren. Seine größte Begabung war, seinen eigenen Worten zufolge, die Zeit für sich arbeiten zu lassen. »Und dies, liebe junge Genossin Weißberg«, sagte er ihr bei jeder sich bietenden Gelegenheit, »lässt sich zu meinem Leidwesen nicht lehren.« Im Büro sagte man über ihn, er sei seinen Untergebenen gegenüber loyal und zugleich einer der begnadetsten Lügner in der Geschichte des KGB. Er könne die eigene Mutter dazu bringen zu schwören, sie sei Jungfrau.
    Zu beiden Seiten des Wagens wirbelten gelbe, rote und braune Blätter auf und stoben auseinander wie ein Bienenschwarm. Wie gern hatte sie mit den Zwillingen Ende Oktober im Garten gespielt, Kolja in mehrere Pullover gehüllt und Wlada in seinem Offiziersmantel, und plötzlich ein kalter Wind, der stärker wird und die Blätter von den Bäumen reißt, bis sie alle drei die Arme ausbreiten und sich den Blätterschwärmen überlassen, die auf sie zugeflogen kommen. Wie schön es ist, die Welt zu hören, wenn sie sich hinter Wolken aus Blättern verbirgt. Mitunter bleibt ein welkes Blatt im Gesicht hängen und geht nicht ab, und Kolja sagt, diese Blätter sind so grauenvoll wie die Finger eines Skeletts, und alle drei laufen sie Hals über Kopf los, fliehen aus den Gärten, rennen zu der Brücke, doch die Blätterskelette setzen ihnen nach, und über ihnen die Spatzen, auch sie verschreckt vom Angriff der Blätter.
    Der Wagen bog in den Litejni Prospekt ein, und Stjopa tätschelte seinen Bauch, der sich in den letzten Monaten gerundet hatte, verfluchte die

Weitere Kostenlose Bücher