Gute Leute: Roman (German Edition)
Bewusstseins«. Da habe er sich gesagt, eine solche Gehilfin könne er brauchen, die aus den Protokollen eine einigermaßen glaubwürdige und vollständige Geschichte zusammenfügen und sich danach mit dem Beschuldigten treffen würde, um gemeinsam mit ihm ein präziseres Geständnis aufzusetzen. Nicht um neue Einzelheiten herauszufinden, sondern vor allem um dem Beschuldigten zu helfen, seine Darstellung von Fehlern zu reinigen, von kleinen Lügen, vom kopflosen Hin und Her zwischen verschiedenen Themen, damit auch er, der Beschuldigte, das Bild seines Lebens in Gänze sehen könne. »Der Beschuldigte, der ein Geständnis schreibt, ist schließlich eine Art Schriftsteller, und jeder Autor braucht doch einen Lektor, nicht wahr, Weißberg?«, hatte Stjopa fröhlich ausgerufen.
Sollte sie das Treffen mit Muraschowski auf morgen verschieben? Seit zwei Wochen schob sie die Begegnung vor sich her. Gestern Nacht hatte Maxim gesagt: »Du hast Angst, weil er der letzte ist.« Sie hatte sich ertappt gefühlt.
In der Tat, Wladimir Muraschowski war der letzte aus dem Freundeskreis ihrer Eltern, alle anderen waren bereits über das ganze Land verstreut. Wollte sie die Angelegenheit vielleicht gar nicht zu Ende bringen und glaubte, dass sie sich, solange noch einer von ihnen übrig war, noch Illusionen hinsichtlich ihres Verlusts hingeben könne? Und hatte Stjopa dieses Hinauszögern bemerkt und Vermutungen über ihre Beweggründe angestellt? Nein, das konnte nicht sein, dachte sie ungehalten. Wusste er nicht die Arbeit zu schätzen, die sie mit der Leningrader Gruppe geleistet hatte? Alle hatten hübsche Geständnisse geschrieben, alle – Brodski, Ossip Lewajew und Emma Rykowa (den alten Varlamow hatten sie unbehelligt gelassen, er würde ohnehin bald sterben). Alle hatten noch mehr Namen geliefert, so dass etwa fünfzig weitere Personen verhaftet werden konnten. Und alle hatte ihre Geständnisse unter ihrer Anleitung verfasst.
Besonders hatte sie das vornehme Auftreten Brodskis beeindruckt. Er hatte in der Haft stark abgenommen und wurde immer wieder von unkontrollierten Zuckungen befallen. Ohne den Puder, mit dem er früher die Akne auf seinen Wangen überdeckt hatte, wirkte sein Gesicht besonders elend. Aber er beklagte sich nicht, brachte keine Bitten vor, die sie ohnehin nicht hätten erfüllen können, erging sich nicht in Einzelheiten, die es den Ermittlern nur unnötig schwer gemacht hätten. Er kannte die Regeln und erwartete keinerlei Erleichterungen. Er verhielt sich, als wäre dies ihre erste Begegnung, setzte sein Geständnis auf, sie machte ihre Anmerkungen – einige davon akzeptierte er, andere wies er zurück und begründete, warum –, und am Ende des Tages hatte sie ein unterschriebenes Geständnis in den Händen. Erst da bedachte er sie mit einem kühlen Blick und sagte: »Es war eine reizvolle Erfahrung, mit Ihnen zu arbeiten, Genossin Alexandra Andrejewna Weißberg, offensichtlich haben Sie trotz allem etwas von uns gelernt.«
»Ein Mensch, der Brodskis Ironie nicht zu schätzen weiß, sollte im Zoo bei den Affen sitzen oder sich dem Verband proletarischer Schriftsteller anschließen.« Sie erinnerte sich nicht mehr, ob Nadja dies gesagt hatte oder Emma Rykowa.
Natürlich gab es auch Beschuldigte, die ihre frühere Bekanntschaft zur Sprache brachten. Emma Rykowa, von deren fülligem Körper nach einem Monat in der Arrestzelle nur noch ein eingeschrumpfter Rhombus mit einem zerknitterten Kopf an der Spitze übergeblieben war, verkündete, sie würde sich eher die Hand abhacken, als sich von einer stammelnden Göre, der sie schon die Windeln gewechselt habe, vernehmen zu lassen. »Ich darf doch wohl um einen etwas achtbareren Henker bitten«, hatte sie stolz ausgerufen.
Sascha hatte dafür gesorgt, dass Emma am nächsten Morgen eine doppelte Ration Brot und eingelegte Gurken bekam und am Abend einen ganzen Liter Krautsuppe. Am Ende der Woche waren die Rationen wieder reduziert worden. Ein paar Tage später bat die Beschuldigte, sich abermals mit ihr treffen zu dürfen.
Sie fragte Sascha, warum sie hier arbeite, doch diesmal mischte sich in das Gift der Frage ein vorsichtiger Unterton, ja sogar der Wunsch zu begreifen. Alexandra reagierte beleidigt: War sie etwa verantwortlich für Emmas groteske Unverantwortlichkeit in den letzten Jahren? Für all ihre polemischen Gedichte, die Provokationen, die Anarchie, die krankhafte Treue zu Nadjeschda Petrowna? Hatte sie nicht mehr verloren als alle anderen?
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