Gute Leute: Roman (German Edition)
schwand, gegen Abend mit Stjopa die letzten Geständnisse zu besprechen, seine Anerkennung für ihre gründliche Arbeit zu ernten und ihn erneut nach dem Verbleib der Zwillinge fragen zu können. Denn die Zeit verstrich und nichts geschah. Manchmal träumte sie noch immer vor sich hin, ließ die Verantwortung und die Aufgaben hinter einer Wolke der Sorglosigkeit verschwinden.
Jeden Morgen, wenn sie den Aktenstapel sah, überkam sie ein Gefühl der Schwäche, spürte sie, dass sie nicht in der Lage wäre, ein solche Fülle von Fakten aufzunehmen: Unmengen von Lebensgeschichten, und in jeder Geschichte unzählige Einzelheiten.
Diese Protokolle waren ihre einzige Lektüre in den zurückliegenden Monaten gewesen. Von morgens bis abends las sie die Aufzeichnungen der Vernehmungen von Beschuldigten durch die Untersuchungsrichter. Immer waren die Protokolle von dem jeweiligen Beschuldigten unterzeichnet, doch sie waren konfus, voller Tatbestände unterschiedlichster Art – Kosmopolitismus, geplante Provokation, Zugehörigkeit zu einem westlichen Spionagenetz, vorsätzliche Sabotage gegen Fabrikationseinrichtungen. In der NKWD-Zentrale in Leningrad hegte man zudem eine besondere Vorliebe für den Straftatbestand der Mitgliedschaft im »Vereinten Block« Trotzkis und Sinowjews.
Die Beschuldigten gestanden, und zwei Seiten weiter revidierten sie ihre Aussage, ergingen sich in Beschreibungen von Orten, an denen sie nie gewesen waren, und von Personen, die sie nie getroffen hatten. Erst jüngst hatte Stepan Kristoporowitsch eine schriftliche Verwarnung aus Moskau erhalten: Von einhundertfünfzig Geständnissen, die seine Abteilung überstellt hatte, waren bei einer Routinekontrolle in zweiunddreißig Protokollen schwerwiegende Fehler zutage getreten. Der schlimmste Irrtum war in dem Geständnis eines gewissen Goldsmann aufgedeckt worden: Der Beschuldigte gab zu, sich im Jahre 1932 mit einem Gewährsmann Trotzkis im Hotel Bristol in Kopenhagen getroffen zu haben. Dieser habe ihn angewiesen, Sabotage- und Terrorakte zu initiieren. Man war schon in Begriff, den Mann bei dem Schauprozess gegen die Bande von Sinowjew und Kamenjew abzuurteilen, als Staatsanwalt Wyschinski herausfand, dass besagtes Hotel bereits im Jahre 1917 abgerissen worden war.
Maxim wiederum hatte ihr erzählt, der Fall habe sich zugetragen, als Stjopa selbst noch in Moskau gearbeitet hatte. In Wahrheit sei Goldsmann auch im Gerichtssaal bei seiner Aussage geblieben, und der schreckliche Fehler sei erst durch die Meldung einer in Dänemark erscheinenden Zeitung aufgeflogen – eine weltweite Blamage für die Sowjetunion, Trotzki, der Schurke, habe einen kleinen Triumph gefeiert. Außerdem hatte Maxim noch gesagt, man habe an höherer Stelle Stepan Kristoporowitsch besagtes Desaster immer noch nicht verziehen und prüfe mit Argusaugen die Geständnisse, die seine Abteilung herausgab. »Unmöglich, dass Goldsmann wissentlich gelogen hat, um uns lächerlich zu machen. Wir hatten ihn schließlich richtig in der Mangel«, beklagte sich Stjopa bei ihrem ersten Treffen, als er Sascha ihre Aufgabe erklärte. »Menschen erinnern sich nun mal nicht an alles, niemand erinnert sich, an welchem Tag er ein bisschen zu viel getrunken und dummes Zeug gegen die Partei vom Stapel gelassen hat, so wie ein Mann sich auch nicht immer an den Namen des Flittchens erinnert, mit dem er seine Frau hintergegangen hat. Schließlich haben nicht alle eine ordentliche Geliebte, noch dazu eine in zweifelhaften Kreisen hochgeschätzte Dichterin, nicht wahr, Alexandra Andrejewna?«
Angesichts dieses Satzes hatte sie wohl oder übel beschlossen ihn zu mögen, seine Aufrichtigkeit, seinen Humor und seinen Hang zur Provokation.
Ihre neue Funktion war dazu bestimmt, Stjopa zu helfen, die Kritik an seiner Person abzuwehren. Die Idee war ihm gekommen, als er die von ihr ausgefüllten Fragebögen las, mit denen sie sich beworben hatte. Darin hatte sie ungeschminkt ihre Geschichte dargelegt und sowohl ihre Eltern verurteilt als auch die degenerierten bürgerlichen Kreise der Intelligenz, von denen sie umgeben gewesen war und die zu ihrem Leidwesen »jedwedes Thema nur von ihrer exklusiven Warte herab betrachtet hatten«. Nach seinen Worten war dies der vollkommenste Lebenslauf, den er jemals zu lesen bekommen hatte: aufrichtig, strukturiert, durchdrungen von der richtigen politischen Anschauung, meisterhaft überleitend von der Erkenntnis der eigenen Fehler zu »einer Neuausrichtung des
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