Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gute Leute: Roman (German Edition)

Gute Leute: Roman (German Edition)

Titel: Gute Leute: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nir Baram
Vom Netzwerk:
Fleischmengen, die seine Frau ihm abends vorsetzte, und schaute gelangweilt nach draußen. Der Fahrer hielt vor dem Gebäude, dessen Straßenfront wie eine rote Festungsmauer erbaut war. Doch die gewaltigen Türen zwischen den Granitsäulen beeindruckten Sascha nicht mehr, erschienen ihr jetzt wie eine Theaterkulisse. Ein Wachposten in Uniform salutierte und stieß die schwere Tür zur Linken auf. Sie traten durch das mit zwei schwarzen Marmorsäulen ausgestattete Foyer, an dessen rechter Wand Nachrichtenblätter, Verlautbarungen und Personalmitteilungen flatterten. Vornüber gebeugt hastete Stjopa die Treppe hinauf, seine Hände fuhren durch die Luft, und Sascha lief hinter ihm her. Weißes Licht drang aus seinem Büro: ein Fenster gegenüber der Tür, in der Mitte ein ausladender Tisch unter einer farbenfrohen Decke mit Vogel- und Schmetterlingsmotiven, eine weitere Tür an der westlichen Wand, seitlich davon ein großer Holzschrank, ein zweiter gleich daneben, und zwischen dem Fenster und der Wand noch ein dritter Schrank.
    »Resnikow will die Schränke rot streichen lassen«, bemerkte Stjopa, womit sie entlassen war. Wieder hatte sie eine Gelegenheit versäumt, ihn zu fragen, ob er geklärt habe, warum auch ihr vierter Brief an den Obkom unbeantwortet geblieben war. Beim letzten Mal, als sie ihn nach den Zwillingen gefragt hatte, verfinsterte sich seine Miene bei der Antwort, die Angelegenheit sei in Arbeit. Klar, dass er es lieber sah, wenn sie das Thema nicht noch einmal aufbrachte. Erst vor kurzem hatte sie ausgerechnet von Resnikow gehört, die Zwillinge seien in ein Arbeitslager im Norden überstellt worden. Maxim dagegen behauptete, in Moskau gäbe es ein Waisenhaus, wohin alle Leningrader Kinder gebracht würden, deren Eltern man verhaftet hatte. Sie glaubte keinem von beidem.
    Stjopa musterte sie eingehend, doch in seinen Augen fehlte dieses despotische Funkeln voller Verehrung, das sie jeden Morgen Ruhe empfinden ließ. Hatte sie ihn irgendwie enttäuscht? Sie war nicht mit dieser wunderbaren Gabe von Menschen wie Maxim, Resnikow oder Stjopa gesegnet, mit leichter Hand im eigenen Gedächtnis durch Hunderte von Fällen und Ereignissen zu navigieren. Du gibst ihnen ein D, und sofort antworten sie: Dubnow, 1934: plante, die Öffentlichkeit hinsichtlich der Erfolge der Kollektivierung zu betrügen; Professor Dubrowin, 1936: Aufhetzung von Studenten, indoktriniert durch den »Vereinten Block«; Dybenko, 1937: Verschwörung mit den Japanern, um die Macht über den Fernen Osten an sich zu reißen, Spionage zugunsten der Engländer, Goldlieferungen an oppositionelle Elemente. Dieser Dybenko ist ein vielbeschäftigter Mann gewesen.
    »Stjopa, alles in Ordnung?« Sie konnte nicht an sich halten, musste ihn fragen, als sie sich in Richtung Tür zurückzog.
    »Alles in bester Ordnung, Weißberg«, erwiderte er mit einem Unterton von Förmlichkeit und holte einen Stapel Papiere aus der Schublade. Sie betrachtete die Wand hinter ihm: Das silberne Heft eines Ritterschwertes glänzte dort, daneben prangten zwei rostige Säbel und ein alter Stahlhelm, den einer seiner Verwandten im Krieg gegen die Weißen getragen hatte. Darüber hingen ein Bild von Stalin und das schöne Porträt Sergej Kirows. Auch sie hatte es immer geliebt. Bei den Aufmärschen der weiblichen Pioniere hatte sie stets darauf bestanden, sein Bildnis zu tragen. Sie erinnerte sich an die Bewegung: Sie steht auf Zehenspitzen, reckt die Arme in die Höhe und schwingt Kirow hoch durch die Luft.
    Sie trat hinaus auf den breiten Flur, durch dessen Fenster die aufgewühlte Newa zu sehen war, deren kleine Wellen die Ufer leckten. Weit in der Ferne lugte zwischen den Wolken die vergoldete, nadelförmige Turmspitze der Festung hervor. Auf der Straße waren, wie üblich, nur wenige Menschen unterwegs. Ihr Großvater hatte einmal gesagt, die Stadt sei die Frucht eines Hirngespinstes, den Sümpfen abgerungen, den Leibeigenen und all den wohlhabenden Beamten, die man nötigte, dort zu wohnen oder zumindest ein Haus zu erwerben. »Sie wurde nicht für die Russen gebaut, sondern war ein Kotau vor deren Träumen.« Bei ihrem einzigen Besuch in Moskau hatten die vielen Menschen, die auf den Straßen unterwegs waren, ihre Augen und Ohren mit Beschlag belegt. Hier jedoch war das Auge stets der Verlockung kunstvoll verzierter Palais, Brücken und vergoldeter Kuppeln ausgesetzt.
    Wenigstens zehn Aktenordner mit Protokollen stapelten sich auf ihrem Tisch, und ihre Hoffnung

Weitere Kostenlose Bücher