Gute Nacht Jakob
Jakob!« sagte ich zärtlich.
»Gunachjakob...«, kam eine schläfrig-knarrende Stimme zurück. Und dann lag wieder ein Tag auf unserer gemeinsamen Lebensreise hinter uns.
DER BRIEF
Der Herbst schritt fort. Für Jakob war es eine kritische Zeit. Wenn die Blätter von den Bäumen fielen und die Stare sich zum Südflug sammelten und ihre letzten Trainingsrunden über den Dächern absolvierten, saß er stumm auf dem Balkon. Der Wind zerrte an seinem Gefieder. Niemand von uns war bei ihm, denn es war schon zu kühl. Er hatte das eine Auge gegen den Himmel gewandt, tanzte hin und her und wippte mit den Flügeln, als wolle er sich den Vögeln dort droben anschließen. Er fraß auch schlecht in dieser Zeit.
Ich widmete mich ihm dann ganz besonders, und allmählich kam er über seinen Kummer hinweg und interessierte sich wieder für die Wohnung und seine Menschen.
Mitunter zogen sich Gewitterwolken über uns zusammen, und ich entsinne mich noch eines Sonntags, an dem sich alles gegen Jakob verschworen zu haben schien. Es fing damit an, daß sämtliche Haarnadeln der Mama verschwunden waren. Sie mußte sich welche von der Omama leihen, wobei sie einige bittere Bemerkungen über >den Vogel< machte, der zuviel Freiheit habe. Nach dem Frühstück vermißte Omama ihren Hutnadelschützer, und das war tragisch, denn die Mama und die Omama wollten in die Stadt fahren, und wenn eine Dame in der Elektrischen keinen Hutnadelschützer hatte, mußte sie absteigen, weil sie sonst die anderen ins Gesicht stach. Mama gab ihren der Omama und fuhr mit ihr los, schon vorher voller Angst. Sie kam denn auch prompt eine halbe Stunde später als Omama wieder nach Hause, denn sie hatte zweimal absteigen müssen. Darüber war wieder Opapa wütend, weil sich das Essen verspätete, dessen pünktliches Erscheinen er mit der Uhr in der Hand hinter seinen Soldaten sitzend zu kontrollieren pflegte.
Am Nachmittag wurde ein feierliches Glückwunschschreiben an Tante Lola aufgesetzt, die bei uns die >Erbtante< hieß, weil sie keine Kinder hatte, sich immer für mich interessierte und man deshalb glaubte, sie werde mir etwas im Testament vermachen. (Sie hinterließ de facto ihr Vermögen einem Institut für heimatlose Katzen.) Omama” und die Mama hatten schon am Eßtisch den Brief geschrieben, und Opapa sollte nur dazuschreiben: »…auch von mir, Dein Max!« Ich sollte den Schluß machen mit der Bemerkung: »Einen Kuß von Deinem Dich liebenden Hänschen.«
Opapa jedoch erklärte zunächst, am Eßtisch könne er sich »nicht genug konzentrieren«, und ging mit dem Brief feierlich ins Arbeitszimmer. Ich mit Jakob auf der Hand hinterher, um das seltene Schauspiel zu genießen, Opapa am Schreibtisch zu sehen, und um dann auch dort sitzen zu können.
Opapa legte den Brief auf die Platte, ich zündete die Lampe an, während er sich räusperte und den Kneifer aufsetzte. Dann klappte er das Tintenfaß auf und griff nach seinem Federhalter. Aber — o Schreck — er lag zwar dort, war aber durch einen unverkennbaren Schnabelhieb in zwei Teile gespalten. Dabei war es Opapas Patent-Lieblingshalter, ein dickes Ding, das vorn einen Hebel hatte. Wenn man ihn umlegte, fiel die Feder heraus. Er hatte ihn von der Leipziger Handwerksmesse mitgebracht. Opapa nahm den Kneifer ab und faßte uns beide sehr unfreundlich ins Auge: »... das ist stark,« sagte er.
Ich streichelte seinen Arm mit der freien Hand. »Ach, Opapa, bitte, nimm’s uns nicht übel! Ich hau ihm den Hintern voll und kauf dir vom Taschengeld einen neuen! Es gibt schon solche, nebenan!« Und mit einem ängstlichen Blick gegen die noch wegen des Hutnadelschützers beleidigte Frauenwelt im Nebenzimmer: »Nimm doch ‘n andern!«
»Na schön... aber…“, sagte er und tat es. Als er ihn eintauchte, stutzte er: »Was, zum Donnerwetter, ist denn da alles im Tintenfaß?«
Er zog den Halter heraus, etwas Dickes klebte daran und fiel auf den Brief — ein toter Mehlwurm! Um die Wurmleiche herum bildete sich ein gewaltiger Klecks aus.
Opapa lehnte sich zurück und warf den Kneifer auf den Tisch: »Das ist zuviel!«
»Ach bitte, bitte... Opapa!« flehte ich.
Jakob, der bis dahin ruhig auf meiner Hand gesessen, flatterte auf den Tisch und nahm Kurs auf den Tintenwurm. Ich gab ihm eine Ohrfeige, die ihn mit Zauberschnelle vom Tisch auf den türkischen Diwan versetzte.
»Nein, was zuviel ist, ist zuviel!« erklärte Opapa. Er wollte auf stehen, rollte die Augen und war ganz rot im Gesicht. Ich hängte
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