Gute Nacht Jakob
bei allen möglichen Gelegenheiten von irgendwelchen höheren Geländepunkten herunterfallen ließ oder wild auf ihnen herumhackte.
Vor allem aber liebte Jakob den Weihnachtsbaum, wohl als eine Erinnerung an den Wald. Jedenfalls schaukelte er sich unentwegt auf den Zweigen. Schon bevor der Baum geschmückt wurde, wies er infolgedessen eine ganze Reihe interessanter weißer Kalkstreifen auf. Als es dann ernsthaft ans Schmücken ging, fraß Jakob mehrere Meter Lametta und übergab sich in die erste Weihnachtsschüssel, die auf den Tisch gestellt wurde. Das wurde überhaupt ein Problem, denn sobald beim Vorbereiten des Gabentisches eine Pfefferkuchenschüssel zusammengestellt wurde, war Jakob da und hackte die Mandeln aus den Kuchen. Man beschloß, ihn einzusperren und die Tür mit Schnur zuzubinden.
Schließlich kam der Heilige Abend heran. Fieberhaft gespannt lauerte ich im Eßzimmer, bis in strengem Zeremoniell Opapa hereinschritt und im — für diese Gelegenheit geheizten — Salon verschwand, wo der Weihnachtsbaum aufgestellt war. In der einen Hand trug er eine zweistufige sogenannte Hutsche, eine tragbare Miniaturtreppe, auf die er kletterte, um mit dem wächsernen Kerzenanzünder in dünner Messingstange, den er in der anderen Hand hielt, die Kerzen zu entzünden. Diese Handlung war immer mit einer gewissen Aufregung verknüpft, da Omama und die Mama befürchteten, daß der Mann dabei das Gleichgewicht verlieren könnte. So stemmte sich die Omama vorn gegen seinen Bauch, während die Mama hinten an seinen Rockschößen hing. Schließlich brannten die Kerzen, und ihr rötlicher Schimmer verkündete mir durch die Glasscheibe, daß es nun nicht mehr lange dauern werde. Jetzt ging Opapa in das angrenzende Arbeitszimmer, holte nach Liste die Phonographenwalze mit »Stille Nacht< heraus, staubte sie umständlich ab, die Blechtute knarrte los, die Flügeltüren gingen auf, und die ganze Familie marschierte herein, voran Opapa, Omama, dann die Mama, dann ich mit Jakob auf der Hand und zum Schluß Valeska. Einen Augenblick standen wir ergriffen, dann stürzte sich alles auf seine Geschenke. Ich bekam immer ein kleines Gabentischchen extra gedeckt und hatte auch einen eigenen kleinen Weihnachtsbaum, einen künstlichen mit giftgrünen Nadeln, der mit kleinen dünnen Lichtchen geschmückt war und den ich innig liebte.
Opapa, sein Leben lang ein Muster an Bescheidenheit, bekam jedes Jahr dasselbe geschenkt, nämlich zwei Garnituren Unterwäsche, ein Glas Erdbeermarmelade (um sie mit dem Löffel zu essen), eine Flasche Schnaps und eine Kiste Zigarren. Jedesmal aber stand er wieder fassungslos vor diesen Schätzen, befühlte — eine vier Jahre alte Weihnachtszigarre paffend — die Wolle der Unterwäsche, wog die Zigarrenkiste in der Hand, hielt die Schnapsflasche gegen das Licht und gab dann jedem von uns einen Kuß, um sich zu bedanken.
Auch Jakob erhielt seinen Weihnachtsaufbau, und zwar einen Teller mit Schabefleischkugeln und eine Tüte mit Mehlwürmern. Zunächst fraß er zwei Schabefleischkugeln. Die übrigen schleppte er weg. Leider achtete man nicht darauf, wohin, und so kam es, daß sich in den Feiertagen mehr und mehr ein unverkennbarer Geruch von faulem Fleisch in der Wohnung zu verbreiten begann, bis es endlich gelang, die schon ziemlich stinkigen Kugeln vollzählig wieder einzusammeln.
Sodann widmete sich Jakob den Mehlwürmern. Einen Teil fraß er, einen anderen verstaute er in seinem Kropf und baute sie dann wieder irgendwo auf. Dann holte er sich eine neue Ladung. Schließlich lagen überall tote Mehlwürmer mit Spuckefäden, während sich der Rest aus der zerfetzten Tüte selbständig machte und in der Gegend herumkroch. Opapa, der diesmal auch ein Paar neue Pantoffeln geschenkt bekommen hatte, trat darauf und kratzte sich die toten Würmer mit dem Obstmesser von der Sohle, was ihm eine milde Rüge eintrug.
Später spielten wir auf dem Phonographen noch >Ihr Kinderlein, kommet< und >Beim Zahnarzt<. Jakob saß im Arbeitszimmer vor der Tute auf der Schreibtischsessellehne und entschlummerte sanft bei den Phonographenklängen, bis ich ihn schließlich in sein Bauer trug und zudeckte.
»Na, gute Nacht, Jakob!«
»Gut’ Nacht, Jakob!« kam es schläfrig unter der Decke zurück. — Es war das letzte richtige Friedensweihnachten. Ich werde es nie vergessen.
GROSSE GESELLSCHAFT
Einmal im Jahr, meist im Februar, stieg die sogenannte Große Gesellschaft. Ja, sie stieg tatsächlich, gleich einer Rakete aus
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