Gute Nacht: Thriller (German Edition)
diese Allianz in Luft auflösen konnte, wenn sie zu der Überzeugung gelangte, dass ein Friedensschluss mit Trout besser für ihre Interessen war.
Doch das war noch nicht alles. Jenseits des Gewirrs hässlicher Details und konkreter Bedrohungen erahnte er ein gesichtsloses Unheil, das immer mehr Fahrt aufnahm, um ihn, Kim, Kyle und Madeleine in den Abgrund zu reißen. Der Teufel, vor dem ihn der kleine Audiochip in Kims Keller gewarnt hatte, war inzwischen aufgewacht und trieb sein Unwesen. Und Gurney hatte ihm nichts entgegenzusetzen als den Entschluss, weiter die Puzzleteilchen zu studieren, nach einem verborgenen Zusammenhang zu forschen und an dem Kartenhaus der falschen Hypothese zu rütteln, bis es einstürzte – oder bis es dessen Verteidigern gelang, ihn aus dem Verkehr zu ziehen.
»Ich hab nichts Bestimmtes vor«, bekannte er. »Aber falls du Zeit hast, dann würde ich mir gern was mit dir ansehen.«
Sie blickte kurz hinauf zur großen Wanduhr. »Ich habe noch eine Stunde, vielleicht ein bisschen weniger. In der Klinik wartet die nächste Sitzung auf mich. Was ist es denn?«
Er führte sie ins Arbeitszimmer, und während er Kims Interview mit Jimi Brewster herunterlud, erzählte er ihr das wenige, was er darüber wusste.
Sie ließen sich in den Sesseln vor dem Computermonitor nieder.
Der Film begann mit einer Sequenz, die anscheinend vom Beifahrersitz von Kims Auto aus aufgenommen worden war, als sich dieses dem fast im Schnee begrabenen Ortsschild von Turnwell näherte, dem praktisch nicht existierenden Dorf in den nördlichen Catskills, in dem Jimi Brewster seine Post abholte.
Er selbst wohnte oben in den Bergen, weit entfernt von der trostlosen Gruppe baufälliger Häuser und verlassener Läden im Hauptort. Als einzige Betriebe waren noch eine Bar mit schmutzigem Schaufenster, eine Tankstelle mit bloß einer Zapfsäule und das Postamt in einem ungefähr garagengroßen Betonbau übrig geblieben.
Kims Auto fuhr – im Film – auf einer Straße mit tiefen Spurrillen und Schneehaufen an den Seiten, hinter denen weitere baufällige Häuser zwischen Bäumen standen, die nicht nur einen winterlich kahlen, sondern einen schlicht toten Eindruck machten. Die ländliche Gegend von Turnwell schien so weit entfernt von Williamstown, wo Jimis Vater gelebt hatte, wie die dunkle Seite des Mondes von der Sonne. Gurney überlegte, ob dieser kulturellen und ästhetischen Distanz eine bewusste Absicht zugrunde lag.
Diese Frage beschäftigte ihn immer stärker, je länger die Aufzeichnung lief.
Außerdem dachte er darüber nach, wer eigentlich die Kamera bediente. Wahrscheinlich Robby Meese, was bedeutete, dass Kims Besuch bei Jimi Brewster noch in die Zeit vor der Trennung gefallen war.
Das Auto bremste, als rechts ein kleines Haus in Sicht kam. Das Gebäude und das triste Grundstück waren stark verwahrlost. Von den Stützpfosten des durchhängenden Dachs über der schrägen Terrasse angefangen bis zur Tür des angrenzenden Plumpsklos bildete nichts einen rechten Winkel. Nach Gurneys Erfahrung war die eklatante Missachtung des Neunziggradprinzips meistens ein Zeichen für Armut, körperliche Gebrechlichkeit, Depression oder eine kognitive Störung.
Durch die schäbige Eingangstür trat ein dünner, nervös wirkender Mann mit unstetem Blick. Er trug schwarze Jeans und ein T-Shirt von der gleichen Karottenfarbe wie sein kurzes Haar und sein knapp geschorener Bart.
Wenn er vor zwanzig Jahren sein Studium begonnen hatte – wie Gurney von Clinter wusste –, musste er mindestens siebenunddreißig sein, aber er sah zehn Jahre jünger aus. Unterstrichen wurde dieser Eindruck noch durch die in großen Lettern auf sein Shirt gedruckte Devise NIEDER MIT ALLEM .
»Kommen Sie rein.« Ungeduldig winkte er seine Gäste zur Tür. »Hier draußen friert man sich den Arsch ab.«
Die Kamera folgte ihm nach drinnen. Der Rücken seines Hemds verkündete AUTORITÄT STINKT .
Das Innere des Hauses war nicht einladender als das Äußere. Der kleine vordere Raum war mit einem Minimum an abgenutzten Möbeln eingerichtet: auf einer Seite eine farblose Couch, an der Wand gegenüber ein kleiner, rechteckiger Tisch mit zwei Klappstühlen.
Zu beiden Seiten der Couch befanden sich geschlossene Türen. Durch eine Tür weiter hinten war eine schmale Küche zu erahnen. Das Licht kam in erster Linie durch ein breites Fenster über dem Tisch.
Als die Kamera mit einem Schwenk den schmalen Raum zeigte, war Kims Stimme zu hören. »Robby,
Weitere Kostenlose Bücher