Gute Nacht: Thriller (German Edition)
Sitzung in der Klinik heimkehrte, schien sie auf einer eigenen Wellenlänge zu schwingen. Nach einigen Bemerkungen über das Elend der Bürokratie verschwand sie mit Krieg und Frieden unter dem Arm Richtung Schlafzimmer.
Bald darauf murmelte Kim etwas davon, dass sie für das Treffen am nächsten Tag mit Rudy Getz frisch und ausgeruht sein musste, sagte Gute Nacht und zog sich nach oben zurück.
Kyle folgte ihrem Beispiel.
Als Gurney hörte, dass Madeleine das Leselicht ausknipste, sah er nach dem Feuer im Kamin, vergewisserte sich, dass Türen und Fenster verschlossen waren und wusch einige Gläser ab, die in der Spüle standen. Gähnend beschloss er, sich ebenfalls zurückzuziehen.
So müde und überlastet er sich auch fühlte, zu Bett zu gehen war etwas völlig anderes als schlafen zu gehen. Das Daliegen in der Dunkelheit führte vor allem zur Entstehung eines grenzenlosen, von der Wirklichkeit unabhängigen Raums, in dem die Elemente des Hirten-Falls herumwirbelten.
Seine Füße waren zugleich feucht und kalt. Er wollte warme Socken anziehen, konnte sich aber nicht dazu überwinden, das Bett zu verlassen. Als er trübsinnig durch das große, vorhanglose Fenster auf seiner Seite starrte, hatte er das Gefühl, dass sich das silbrige Mondlicht wie das Phosphoreszieren eines toten Fischs über die obere Wiese ergoss.
Schließlich zwang ihn die innere Rastlosigkeit dazu, aufzustehen und sich anzuziehen. Er tapste in die Küche und ließ sich auf einem Sessel beim Kamin nieder. Dort war es zumindest angenehm warm. Auf dem Gitter glomm die letzte Glut. Er hatte das Gefühl, dass er im Sitzen besser nachdenken konnte als im Liegen.
Was wusste er mit Sicherheit über den Fall?
Der Gute Hirte war intelligent, in Drucksituationen stabil, aber risikoscheu. Gründlich in der Planung, sorgfältig in der Ausführung. Menschenleben waren ihm absolut gleichgültig. Er war wild entschlossen, die Dokumentarreihe über die Mordwaisen zu stoppen. Mit einer großen Schusswaffe ging er genauso geschickt um wie mit einem filigranen Eispickel, der für Cocktails gedacht war.
Etwas, worauf Gurney immer wieder zurückkam, war die Risikoscheu. War sie vielleicht der Schlüssel zu allem? Diese Eigenschaft schien kennzeichnend für die meisten Aspekte des Falls. Zum Beispiel für das geduldige Auskundschaften idealer Schauplätze, die ausschließliche Wahl von Linkskurven etwa, um die Gefahr eines Zusammenstoßes nach dem Schuss so gering wie möglich zu halten, für die Entsorgung der teuren Waffen nach einmaligem Gebrauch, die Bevorzugung eines unauffälligen Parkplatzes statt eines bequem erreichbaren vor dem Mord an Ruth Blum. Und vor allem war da dieser gewaltige Aufwand, mit dem er seine raffinierten, sorgsam durchdachten Täuschungsmanöver inszenierte – vom ursprünglichen Manifest bis zu der gefälschten Nachricht auf Ruths Facebook-Seite.
Dieser Mann wollte sich um jeden Preis schützen.
Dafür opferte er Zeit, Geld und Menschenleben.
Das warf eine interessante Frage auf. Hatte er außer den bereits ans Licht gekommenen Vorkehrungen vielleicht noch andere, risikominimierende Maßnahmen ergriffen? Oder anders ausgedrückt, welche anderen Risiken konnten ihm bei seinem möderischen Vorhaben gefährlich werden, und was hatte er dagegen unternommen?
Gurney musste sich in die Lage des Guten Hirten versetzen.
Er fragte sich, welche Möglichkeiten ihm die meisten
Sorgen bereiten würden, wenn er plante, jemanden auf einer
nächtlich einsamen Straße zu erschießen. Eine Sache fiel ihm sofort ein: Was war, wenn er vorbeischoss? Wenn das Opfer einen Blick auf das Autokennzeichen erhaschte? Natürlich war das nicht sehr wahrscheinlich, aber einem risikoscheuen Menschen musste so eine Eventualität Sorgen machen.
Berufsverbrecher benutzten für ihre Taten oft gestohlene Autos, doch drei Wochen lang einen Wagen zu behalten und zu fahren, dessen Diebstahl schon längst gemeldet und von den Datenbanken der Polizei erfasst war, schien als Strategie zur Risikominimierung kaum vorstellbar. Und auch für jeden Anschlag ein neues Fahrzeug zu stehlen war insgesamt zu gefährlich. Sicherlich keine Vorgehensweise, die dem Guten Hirten behagte.
Was würde er also tun?
Vielleicht das Nummernschild mit Dreck beschmieren? Mit einem unleserlichen Kennzeichen konnte man sich zwar ein Bußgeld einhandeln, aber was machte das schon? Dieses Risiko war geringfügig im Vergleich zu der Sicherheit, die man dadurch gewann.
Was konnte dem Guten
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