Gute Nacht: Thriller (German Edition)
Streifen fehlte zum Vollmond: eine Kugel mit einer leicht abgeflachten Seite. Sie warf einen grauen Schimmer über das Gras und malte tiefe schwarze Schatten vor die Bäume am Rand der Wiese. Gurney kniff die Augen zusammen, um die hängenden Äste der Schierlingstannen ausmachen zu können.
Plötzlich glaubte er eine Bewegung wahrzunehmen. Mit angehaltenem Atem beugte er sich näher zum Fenster. Er stützte sich auf die Anrichte und stieß im nächsten Moment einen lauten Schrei aus, denn ein stechender Schmerz schoss durch sein rechtes Handgelenk. Noch bevor er hinsah, wusste er, dass er die Hand auf die rasiermesserscharfe Spitze des Pfeils gedrückt hatte, der schon seit einer Woche dort lag und sich nun tief ins Fleisch gebohrt hatte. Sofort schaltete er das Licht wieder ein – in seiner nach oben gewandten Handfläche sammelte sich bereits das Blut und tropfte zwischen den Fingern auf den Boden.
40
Den Tatsachen ins Auge sehen
Obwohl er völlig erschöpft war, konnte Gurney nicht schlafen und hockte jetzt im Halbdunkel am Frühstücks-
tisch, den Blick auf den östlichen Bergkamm gerichtet. Wie kranke Blässe breitete sich das Morgengrauen über dem Himmel aus – eine genaue Entsprechung zu seiner Gemütsverfassung.
Durch seinen Schmerzensschrei aus dem Schlaf gerissen, hatte ihn Madeleine nachts in die Notaufnahme des kleinen Krankenhauses von Walnut Crossing gefahren.
Sie war nicht von seiner Seite gewichen während der vier langen Stunden, die sie dort verbringen mussten, weil ausgerechnet fast zur gleichen Zeit drei Rettungswagen mit Schwerverletzten eintrafen – Opfer eines unwahrscheinlichen Unfalls, bei dem ein betrunkener Fahrer ein Plakat umgerammt hatte, das zur Abschussrampe für ein zu schnelles Motorrad wurde, das wiederum auf der Motorhaube eines entgegenkommenden Wagens landete. Zumindest war das die Geschichte, die sich Sanitäter und Notfallärzte immer wieder erzählten, während Gurney darauf wartete, dass er endlich genäht und verbunden wurde.
Es war sein zweiter Besuch in einem Krankenhaus innerhalb einer knappen Woche, und das an sich war schon beunruhigend.
Auf der Fahrt dorthin, im Wartebereich und auf dem Rückweg waren ihm die besorgten Blicke von Madeleine nicht entgangen, doch sie hatten kaum ein Wort miteinander gewechselt. Das wenige, das gesagt wurde, drehte sich darum, wie sich seine Hand anfühlte und dass sie diesen verdammten Pfeil endlich loswerden oder zumindest an einem sicheren Ort aufbewahren mussten.
Es gab andere Dinge, die er hätte erwähnen können und vielleicht sogar sollen. Den Sender, den er an Kims Auto entdeckt hatte. Den Sender unter seinem Wagen. Den dritten Eispickelmord. Aber er behielt alles für sich.
Natürlich hatte er einen guten Grund für sein Schweigen, wie er fand: Wenn er es ihr erzählt hätte, würde sie sich nur aufregen. Allerdings mahnte ihn eine leise Stimme in seinem Hinterkopf, dass es ihm eigentlich darum ging, Diskussionen zu vermeiden und sich seine Handlungsfreiheit zu bewahren. Schließlich beruhigte er sich mit dem Vorsatz, ihr diese Dinge nur vorübergehend zu verheimlichen – also war es nicht unbedingt eine Frage der Ehrlichkeit, sondern der Zeit.
Als sie eine halbe Stunde vor Anbruch der Morgendämmerung nach Hause kamen, ging sie mit dem gleichen betroffenen Ausdruck ins Bett, den er in dieser Nacht so oft auf ihrem Gesicht gesehen hatte.
Zu aufgewühlt, um noch ein wenig zu dösen, setzte er sich an den Tisch und dachte fieberhaft über die jüngsten Entwicklungen und vor allem über die neue Mordserie nach.
Von den vielen Gründen, die irgendwann zu einer Überführung von Mördern führten, galten allerdings nur die wenigsten auch für Täter, die intelligent und diszipliniert waren. Und der Gute Hirte gehörte sicher zu den gerissensten und diszipliniertesten.
Die einzig realistische Chance, ihn zu identifizieren, bestand in einem konzentrierten, sorgfältig abgestimmten Vorgehen der Strafverfolgungsbehörden. Dazu gehörte eine Neubewertung aller Daten des ursprünglichen Falls, intensiver Personalaufwand, ein kompletter Neustart der Ermittlungen. Doch unter den aktuellen Voraussetzungen waren solche Schritte völlig undenkbar. Weder das FBI noch das BCI würde sich aus seiner Festung hervorwagen. Aus diesem Bollwerk, das sie selbst errichtet und zehn Jahre lang verstärkt hatten.
Was sollte er jetzt tun?
Geächtet und dämonisiert, mit einer drohenden Anklage wegen Brandstiftung im Nacken und einem
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