Gute Nacht: Thriller (German Edition)
Blutspur zu dem niedrigen, langen Kasten.
Eigentlich sah er aus wie eine ganz normale alte Truhe für Decken oder Ähnliches. Doch in seinem Kopf hielt sich die melodramatische Vorstellung, dass das Ding genau die richtige Größe für einen Sarg hatte.
»Mein Gott, was ist das?« Kim war ihm gefolgt und stand jetzt wenige Schritte hinter ihm. Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern.
Gurney steckte sich die Taschenlampe zwischen die Zähne und richtete sie auf die Truhe. Die Beretta in der rechten Hand hob er vorsichtig mit der linken den Deckel.
Zuerst glaubte er, sie sei leer.
Dann bemerkte er im matten gelben Strahl der Taschenlampe das Messer.
Ein Gemüsemesser. Doch selbst in dem schwachen Licht war nicht zu übersehen, dass die Klinge zu einem dünnen, rasiermesserscharfen Spieß geschliffen war. Und an der Spitze leuchtete ein winziger Tropfen Blut.
5
Tiefer ins Dornengestrüpp
Obwohl Gurney sie zu überzeugen versuchte, weigerte sich Kim, die Polizei zu verständigen.
»Ich hab’s dir doch gesagt, wie oft ich bei denen schon angerufen habe. Ich will nicht mehr. Da passiert sowieso nichts. Oder schlimmer noch, sie kommen in die Wohnung, machen sich an den Türen und Fenstern zu schaffen, und anschließend teilen sie mir mit, es gibt keine Spuren eines gewaltsamen Eindringens. Dann fragen sie, ob jemand verletzt und ob was Wertvolles gestohlen wurde oder kaputt gegangen ist. So nach dem Motto: Wenn das Problem in keine von diesen Schubladen passt, ist es kein Problem. Beim letzten Anruf hab ich ihnen erzählt, dass ich ein Messer im Bad gefunden habe. Doch als sich herausstellte, dass das Messer mir gehört, waren sie nicht mehr interessiert – obwohl ich immer wieder darauf hinwies, dass das Messer zwei Wochen vorher verschwunden ist. Sie haben einen kleinen Tropfen Blut, der neben dem Messer war, vom Boden geschabt, mitgenommen und nie wieder ein Wort darüber verloren. Wenn die bloß hier aufkreuzen und mich ansehen, als wäre ich eine hysterische Kuh, können sie mir gestohlen bleiben! Weißt du, was einer von denen beim letzten Mal getan hat? Gegähnt. Ungelogen, der Kerl hat mir einfach ins Gesicht gegähnt!«
Gurney dachte daran, dass jeder Cop in einer Stadt instinktiv abwägt, wie sehr ein neuer Vorfall sein Arbeitspensum vermehrt. Alles ist relativ: abhängig davon, was er sonst noch zu bearbeiten hat, abhängig von den anderen dringenden Aufgaben des Monats, der Woche, des Tages. Er erinnerte sich an einen Partner bei der New Yorker Mordkommission – einen Mann, der in einem verschlafenen kleinen Nest im westlichen New Jersey wohnte und jeden Tag die weite Strecke in die Stadt auf sich nahm. Eines Tages brachte er seine Lokalzeitung mit. Die große Schlagzeile war, dass bei jemandem ein Vogelbad aus dem Garten verschwunden war. Und das zu einer Zeit, als in New York pro Woche durchschnittlich zwanzig Morde passierten – von denen die meisten in den Stadtzeitungen höchstens mit einer Zeile erwähnt wurden. Tatsache war, dass alles vom Kontext abhing. Gurney sprach es zwar nicht aus, aber er konnte gut nachvollziehen, weshalb die Entdeckung von Kims Messer in ihrem Bad nicht gerade weltbewegend war für einen Cop, der sich mit einem Wust von Vergewaltigungen und Morden herumschlagen musste.
Dennoch hatte er gleichermaßen Verständnis für Kims Verunsicherung. Die Handlungsweise des Eindringlings hatte etwas Bedrohliches an sich, das auch ihn nicht kaltließ. Er deutete an, dass es ganz gut für sie wäre, Syracuse zu verlassen und vielleicht eine Weile bei ihrer Mutter zu wohnen.
Der Vorschlag hatte eine unbeabsichtigte Wirkung: Er verwandelte ihre Furcht in Wut. »Dieses blöde Arschloch! Wenn er glaubt, dass er mich auf die Art kleinkriegt, dann kennt er mich schlecht!«
Gurney wartete, bis sie sich ein wenig beruhigt hatte, ehe er fragte, ob sie sich an die Namen der Polizeibeamten erinnerte, die nach ihren früheren Telefonaten aufgetaucht waren.
»Ich hab doch gesagt, ich ruf nicht mehr an.«
»Klar. Aber ich würde gern selber mit ihnen reden. Möglicherweise wissen sie was, das sie dir nicht erzählt haben.«
»Worüber?«
»Über Robby Meese vielleicht? Wer weiß? Um Genaueres zu erfahren, muss ich erst mit ihnen reden.«
Kim blickte ihn mit ihren dunklen Augen forschend an. Sie kniff die Lippen zusammen. »Elwood Gates und James Schiff. Gates ist der Kleine, Schiff der Lange. Beide die gleichen Trottel, obwohl sie verschieden aussehen.«
Nach einem nervösen Blick auf
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