Gute Nacht: Thriller (German Edition)
sagte sie, »aber eigentlich gibt es nichts zu sehen. Es ist bloß ein Ort zum Arbeiten und Schlafen für mich. Kein echtes Zuhause.« Sie brachte ihn zur Tür und bedankte sich noch einmal, während sie ihm fest die Hand schüttelte.
Als er die Treppe zu dem rissigen Gehsteig hinunterstieg, hörte er, wie hinter ihm die beiden schweren Schlösser einrasteten. Sein Blick glitt nach links und rechts. Die Straße war schmutzig und salzverkrustet – vermutlich die getrockneten Reste eines Sprühmittels zum Wegschmelzen der letzten Schneehaufen. In der Luft hing ein schwacher, beißender Geruch.
Er setzte sich in sein Auto und steckte sein tragbares GPS ein, um sich nach Hause dirigieren zu lassen. Es brauchte ungefähr eine Minute, um die Satellitensignale aufzunehmen. Als die ersten Anweisungen ertönten, hörte er ein lautes Türenknallen. Kim kam aus dem Haus gestürzt. Auf der letzten Stufe rutschte sie aus und schlug der Länge nach auf den Gehsteig. Mühsam zog sie sich an einer Mülltonne hoch.
Dann war Gurney auch schon bei ihr. »Alles in Ordnung?«
»Ich weiß nicht … Mein Knöchel …« Sie atmete schwer und wirkte verängstigt.
Er fasste sie an den Armen, um sie zu stützen. »Was ist denn passiert?«
»Blut …, in der Küche.«
»Was?«
»Blut. Auf dem Küchenboden.«
»Ist jemand drinnen?«
»Nein. Weiß nicht. Hab niemanden gesehen.«
»Wie viel Blut?«
»Keine Ahnung. Tropfen auf dem Boden. Wie eine Spur. Zum hinteren Flur. Bin mir nicht sicher.«
»Und du hast niemanden gesehen oder gehört?«
»Nein, glaub nicht.«
»Okay. Jetzt ist alles gut. Du bist in Sicherheit.«
Sie fing an zu blinzeln. In ihren Augen standen Tränen.
»Schon gut«, wiederholte er leise. »Du bist in Sicherheit.«
Sie wischte die Tränen weg und rang um Fassung. »Okay, alles klar.«
Als ihr Atem wieder ruhiger ging, sagte er: »Ich möchte, dass du dich in mein Auto setzt. Du kannst die Tür verriegeln. Ich schau mich in der Wohnung um.«
»Ich komm mit.«
»Besser, du bleibst im Auto.«
»Nein!« Sie sah ihn flehend an. »Das ist meine Wohnung. Ich lass mich von dem Kerl nicht aus meiner Wohnung vertreiben!«
Sicher entsprach es nicht der üblichen Vorgehensweise der Polizei, einer Privatperson unter diesen Umständen das Betreten ihrer Wohnung zu gestatten, ehe diese durchsucht worden war. Aber Gurney war kein Polizeibeamter mehr und somit auch nicht mehr an derartige Vorschriften gebunden. Angesichts ihrer Verfassung war es wohl besser, wenn sie bei ihm blieb, statt allein im Wagen zu hocken.
»Okay.« Er zog die Beretta aus dem Knöchelhalfter und schob sie in die Jackentasche. »Dann sehen wir mal nach.«
Er ging voraus und ließ beide Türen offen. Vor dem Wohnzimmer stoppte er. Der Gang endete nach ungefähr sechs Metern in einem Bogen, der zur Küche führte. Rechts zwischen dem Wohnzimmer und der Küche waren zwei offene Türen. »Wohin geht es da?«
»Vorn zum Schlafzimmer, hinten zum Bad.«
»Ich seh mich kurz in beiden Räumen um. Wenn du was hörst, das dich beunruhigt, oder wenn ich auf deinen Ruf hin nicht sofort antworte, läufst du raus, so schnell du kannst, sperrst dich in meinem Auto ein und wählst 911. Verstanden?«
»Ja.«
Er ging zum ersten Zimmer und schaltete nach einem kurzen Blick hinein die Deckenlampe ein. Es gab nicht viel zu sehen. Ein Bett, ein Tischchen, ein hoher Spiegel, zwei Klappstühle, ein wackliger Kleiderschrank. Er spähte in den Kleiderschrank und unters Bett. Wieder im Gang hob er den Daumen, um Kim zu beruhigen. Anschließend wiederholte er das Ganze im Bad.
Als Nächstes kam die Küche.
»Wo hast du die Blutstropfen gesehen?«, fragte er.
»Sie fangen vor dem Kühlschrank an und führen in den hinteren Flur.«
Vorsichtig schlüpfte er in die Küche. Zum ersten Mal seit einem halben Jahr war er froh über seine Pistole. Der Raum war ziemlich geräumig. Hinten rechts standen ein Esstisch und zwei Stühle vor einem Fenster, durch das man auf die Einfahrt und das Nachbarhaus blickte. Durch das Fenster fiel ein wenig Licht ein, aber nicht viel.
Vor sich hatte er eine Arbeitsplatte mit Einbauschränken darunter, eine Spüle und einen Kühlschrank. Zwischen ihm und dem Kühlschrank stand ein kleiner Butcherblock, auf dem ein Fleischerbeil lag. Als er hinter den Hackblock trat, bemerkte er das Blut – auf dem abgenutzten Linoleumboden zogen sich dunkle Tropfen, alle ungefähr in der Größe eines Zehn-Cent-Stücks und in einem Abstand von knapp einem
Weitere Kostenlose Bücher