Gute Nacht: Thriller (German Edition)
Drogendealer, sie wurden alle verhaftet. Aber wahrscheinlich sind sie inzwischen wieder draußen, was weiß ich. Ziemlich beschissene Zustände in der Stadt.«
»Die obere Wohnung steht also leer?«
»Ja, angeblich.« Sie fixierte die Pizzaschachtel auf dem Couchtisch. »Mann, die sieht ja furchtbar aus. Soll ich sie aufwärmen?«
»Für mich nicht.« Er war kurz davor, sich zu verabschieden, doch dann fiel ihm auf, dass er noch gar nicht lange hier war. Das war wieder so eine tief in ihm verwurzelte Neigung, die sich im vergangenen halben Jahr verstärkt hatte: der Wunsch, möglichst wenig Zeit mit anderen Menschen zu verbringen.
Er hielt die blaue Mappe hoch. »Ich glaube nicht, dass ich das alles sofort durchgehen kann. Sieht ziemlich detailliert aus.«
Wie eine schnell vorüberziehende Wolke an einem strahlenden Tag flog ein Ausdruck von Enttäuschung über ihr Gesicht. »Heute Abend vielleicht? Ich meine, du kannst es gern mitnehmen und dich damit beschäftigen, wenn du Zeit hast.«
Ihre Reaktion ging ihm irgendwie nahe. Er war gerührt , ja, das war das einzige Wort dafür, und es war das gleiche Gefühl wie vorhin, als sie ihm erzählte, wie sie ihre Suche auf die Morde des Guten Hirten eingegrenzt hatte. Allerdings glaubte er jetzt zu verstehen, woher dieses Gefühl kam.
Es war ihr rückhaltloses Engagement, ihre Energie, ihre Zuversicht – ihre jugendliche Entschlossenheit. Und die Tatsache, dass sie es allein machte. Allein in einem unsicheren Haus, in einer heruntergekommenen Gegend, verfolgt von einem gehässigen Stalker. Er vermutete, dass es diese Mischung aus Zielstrebigkeit und Verletzlichkeit war, die seinen verkümmerten Vaterinstinkt weckte.
»Ich werfe heute Abend einen Blick darauf«, versprach er.
»Danke.«
Wieder brandete aus der Ferne schwach das Dröhnen eines Hubschraubers heran, wurde lauter, zog vorüber und verschwand.
Nervös räusperte sie sich und faltete die Hände im Schoß. »Ich wollte dich um was bitten. Ich weiß auch nicht, warum mir das so schwerfällt.« Sichtlich ungehalten über ihre Verlegenheit schüttelte sie den Kopf.
»Was ist es?«
Sie schluckte. »Kann ich dich engagieren? Nur für einen Tag?«
»Mich engagieren? Wozu?«
»Es ist mir peinlich, dich so unter Druck zu setzen, ehrlich. Aber das ist einfach so wahnsinnig wichtig für mich.«
»Was soll ich machen?«
»Morgen … könntest du mich da vielleicht begleiten? Du musst eigentlich nichts machen. Es ist so, ich hab morgen zwei Treffen. Eins mit einem potenziellen Interviewpartner, das andere mit Rudy Getz. Ich möchte bloß, dass du dabei bist – mir zuhörst, ihnen zuhörst – und mir hinterher sagst, was dir aufgefallen ist, mir vielleicht einen Rat gibst, ich weiß auch nicht, einfach … Ich hab mich bestimmt unklar ausgedrückt …«
»Wo finden diese Treffen morgen statt?«, fragte er.
»Du machst es? Du kommst mit? O Gott, danke, ich danke dir! Beide sind gar nicht so weit weg – ich meine, so nah wieder nicht, aber eben auch nicht weit. Eins ist in Turnwell – Jimi Brewster, der Sohn eines Opfers. Und das Haus von Rudy Getz liegt ungefähr fünfzehn Kilometer von hier, oben am Berg über dem Ashokan-Stausee. Wir sind zuerst bei Brewster, um zehn, das heißt, ich müsste dich so gegen halb neun abholen. Ist das okay?«
Einem inneren Reflex folgend, wollte er schon ablehnen, weil er lieber das eigene Auto nahm. Doch es war tatsächlich sinnvoller, die Fahrt mit ihr für die Fragen zu nutzen, die ihm bis dahin unweigerlich einfielen. Um ein besseres Gespür dafür zu bekommen, was ihn da eigentlich erwartete.
»Klar«, antwortete er, »das passt.« In Wirklichkeit bedauerte er bereits, dass er sich auch nur für einen Tag auf diese Sache eingelassen hatte. Nur konnte er jetzt nicht mehr zurück.
»In dem vorläufigen Budget, das ich mit RAM ausgehandelt habe, ist auch ein Posten für Beratung vorgesehen. Ich kann dir siebenhundertfünfzig Dollar für deinen Arbeitstag zahlen. Ich hoffe, das ist genug?«
Er verzichtete darauf, ihr zu erklären, dass sie ihn nicht bezahlen musste, dass das nicht der Grund war, warum er es machte, denn ihr geschäftsmäßiger Ernst ließ keinen Zweifel daran, dass sie es so wollte. »Sicher, das reicht.«
Zehn Minuten später, nach einigen belanglosen Worten – über ihr Studium, über die allzu typischen Drogenprobleme in Syracuse – stand er auf und wiederholte seine Zusage für den morgigen Tag.
»Ich würde dir gern die Wohnung zeigen«,
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