Gute Nacht: Thriller (German Edition)
rachsüchtige Schlampe ist, die ihm Scherereien machen will.«
»Und das ist jetzt die Theorie?«, fragte Gurney ungläubig. »Dass Kim spinnt und das alles selber veranstaltet hat? Bloß damit sie ihren Exfreund anschwärzen kann?«
Schiffs Blick schien eine gewisse Schwäche für diese Hypothese zu signalisieren. Er zuckte die Achseln. »Oder ein Dritter ist verantwortlich – aus noch ungeklärten Gründen.« Erneut schielte er auf sein Handy. »Ich muss los. Wenn man Spaß hat, vergeht die Zeit am schnellsten.« Er machte einen Schritt in Richtung Zimmertür.
»Warum keine Kameras?«, fragte Gurney.
»Wie bitte?«
»Wenn wiederholt unbefugtes Eindringen und Vandalismus gemeldet wird, wäre es doch naheliegend, versteckte Überwachungskameras einzubauen.«
»Dazu habe ich Ms. Corazon dringend geraten. Sie hat abgelehnt. Angeblich ein unerträglicher Eingriff in ihre Privatsphäre.«
»Das wundert mich.«
»Außer ihre Anzeigen sind Quatsch, und eine Kamera würde es beweisen.«
Schweigend schritten sie zurück zum Empfangsbereich, vorbei an dem diensthabenden Beamten. Kurz vor dem Haupteingang hielt Schiff Gurney auf. »Haben Sie vorhin nicht gesagt, dass Sie in der Wohnung neue Beweise gefunden haben.«
»Ja, das habe ich gesagt.«
»Und? Worum handelt es sich?«
»Sind Sie sicher, dass Sie das wissen wollen?«
In Schiffs Augen blitzte es zornig auf. »Ja, ich würde es gern wissen.«
»Es sind Blutstropfen, die von der Küche zu einer Truhe im Keller führen. In der Truhe liegt ein scharfes kleines Messer. Aber das ist bestimmt keine große Sache. Vielleicht hat Kim bloß wieder den Saft aus einem Steak gepresst und auf die Treppe tropfen lassen. Vielleicht wird sie einfach von Minute zu Minute verrückter und rachsüchtiger.«
Auf der Heimfahrt fühlte sich Gurney nicht wohl in seiner Haut. Ständig hallte in ihm die sarkastische Bemerkung nach, mit der er sich von Schiff verabschiedet hatte. Je länger er darüber nachgrübelte, desto mehr schien diese Äußerung einem Muster zu entsprechen: dem Muster kleinlicher Streitsucht, das seit seiner Verletzung sein Denken und Verhalten beherrschte.
Er hatte von jeher die Neigung, in allen Situationen die gängige Meinung infrage zu stellen, und auch die Gabe, Unstimmigkeiten aufzuspüren. Doch langsam wurde ihm ein weiteres Geschehen in seinem Inneren bewusst, das viel weniger objektiv war. In den intellektuellen Hang, die Logik jeder Annahme und Folgerung auf den Prüfstand zu stellen, hatte sich Feindseligkeit gemischt – eine Feindseligkeit, die von mürrischer Widerborstigkeit bis zu blanker Wut reichte. Er hatte sich immer mehr isoliert und betrachtete jede Idee, die nicht von ihm stammte, voller Argwohn. Und er war überzeugt, dass das alles vor einem halben Jahr mit den drei Schüssen angefangen hatte, die ihn fast getötet hätten. Objektivität, früher eine völlig selbstverständliche Stärke für ihn, war inzwischen etwas, wonach er bewusst streben musste. Doch diese Mühe lohnte sich. Denn ohne Objektivität stand er mit leeren Händen da.
Vor langer Zeit hatte ihm ein Therapeut einmal gesagt: »Wenn man beunruhigt ist, sollte man versuchen, die Angst dahinter zu identifizieren. Ursache ist immer Angst, und solange man sich ihr nicht stellt, neigt man zu negativem Handeln.« Jetzt sann Gurney darüber nach, wovor er sich fürchtete. Die Frage beschäftigte ihn fast den gesamten restlichen Heimweg. Die klarste Antwort, die er finden konnte, war auch die peinlichste.
Er hatte Angst davor, sich zu irren.
Er parkte neben Madeleines Wagen bei der Seitentür des Farmhauses. Die Bergluft kam ihm ziemlich kühl vor. Er trat ein und hängte seine Jacke im Vorraum auf. Auf dem Weg in die Küche rief er: »Ich bin da.« Keine Antwort. Das Haus strahlte eine lähmende Leblosigkeit aus – eine schwer zu beschreibende Leere, die nur entstand, wenn Madeleine nicht da war.
Er musste auf die Toilette und machte sich auf den Weg, doch dann fiel ihm ein, dass er Kims blaue Mappe im Auto vergessen hatte. Er ging wieder hinaus und bemerkte, unmittelbar bevor er den Wagen erreichte, etwas leuchtend Rotes rechts vom Parkplatz: mitten in dem Hochbeet, wo Madeleine im vergangenen Jahr Blumen gepflanzt hatte. Dieser Umstand erklärte auch seinen ersten Eindruck, dass es sich um eine rote Blüte auf einem geraden Stiel handelte. Unmittelbar darauf wurde ihm klar, dass eine Blüte um diese Jahreszeit eher unwahrscheinlich war. Als er schließlich zum Beet trat
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