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Gute Nacht: Thriller (German Edition)

Gute Nacht: Thriller (German Edition)

Titel: Gute Nacht: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Verdon
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Seine Mutter war bei einem Tanzkurs in einem Studio in Manhattan – eine verzehrende Manie, die ihre vorherige Fingermalobsession abgelöst hatte. Seine Großmutter betete in ihrem Zimmer leise murmelnd Rosenkränze. Er befand sich im Schlafzimmer seiner Mutter, das sie allein benutzte, seit sein Vater auf der Wohnzimmercouch schlief und seine Kleidung in einem Flurschrank untergebracht hatte.
    Er machte eins der beiden oberen Fenster auf. Die Luft war kalt und roch nach Schnee. Er besaß einen Holzbogen – einen echten, kein Spielzeug. Zwei Jahre lang hatte er sein Taschengeld gespart, um ihn kaufen zu können, träumte davon, eines Tages damit in einem Wald weit weg von der Bronx auf die Jagd zu gehen. Er stand vor dem offenen Fenster und ließ sich von der kalten Luft umspülen. Angestachelt von einer seltsamen Erregung, legte er einen scharlachrot gefiederten Pfeil ein, hob den Bogen zum schwarzen Himmel vor dem Fenster im fünften Stock, zog die Sehne zurück und ließ den Pfeil in die Nacht hinausfliegen. Wie eine eisige Hand legte sich die Furcht um sein Herz, als er auf ein Geräusch lauschte – den Aufprall auf dem Dach eines niedrigeren Hauses im Viertel, ein metallisches Klacken auf einem geparkten Auto oder einen scharfen Knall auf dem Gehsteig –, doch er hörte nichts. Überhaupt nichts.
    Leises Grauen stieg in ihm auf.
    Er stellte sich vor, wie der scharfe Pfeil lautlos in einen Menschen eindrang.
    Den Rest der Nacht grübelte er über die möglichen Konsequenzen nach. Die Gedanken daran jagten ihm eine Todesangst ein. Doch die bleibende Unruhe, der unverdauliche Teil des Erlebnisses, das ihn sogar noch jetzt, fünfunddreißig Jahre später, quälte, gipfelte in der Frage, auf die er nie eine Antwort gefunden hatte: Warum?
    Warum hatte er es getan? Was hatte ihn dazu getrieben, so leichtsinnig und ohne Aussicht auf eine rationale Belohnung zu handeln und ein völlig sinnloses Risiko einzugehen?
    Wieder fixierte Gurney die Anrichte, erstaunt über die bizarre Symmetrie zwischen den beiden Rätseln: der Pfeil, den er mit unbekanntem Motiv und Ziel aus dem Schlafzimmerfenster seiner Mutter geschossen hatte, und der Pfeil, der mit unbekanntem Motiv und Ausgangspunkt im Garten seiner Frau gelandet war. Er schüttelte den Kopf, wie um den inneren Nebel zu lichten. Höchste Zeit, sich mit etwas anderem zu befassen.
    Zum Glück klingelte in diesem Augenblick das Telefon.
    Es war Connie Clarke. »Da ist noch was, das ich heute Morgen nicht erwähnt habe.«
    »Ach?«
    »Ich hab es nicht absichtlich unterschlagen. Nur so eine vage Sache, von der ich manchmal glaube, es gibt einen Zusammenhang, und manchmal nicht.«
    »Ja?«
    »Wahrscheinlich eher ein Zufall. Die Morde des Guten Hirten sind doch alle exakt vor zehn Jahren passiert. Na ja, genau zu dieser Zeit ist auch Kims Vater von der Bildfläche verschwunden. Damals waren wir seit zwei Jahren geschieden, und in dieser Zeit hat er ständig davon geredet, dass er in der Welt herumreisen will. Ich dachte nicht, dass er es wirklich macht – obwohl er erstaunlich impulsiv und verantwortungslos sein konnte, was zum Teil auch der Grund für unsere Scheidung war. Aber dann hat er eines Tages auf dem Anrufbeantworter eine Nachricht hinterlassen, dass der Moment gekommen ist, jetzt oder nie, er will weg. Total lächerlich im Grunde. Doch das war es dann. Die erste Frühlingswoche vor zehn Jahren. Wir haben nie wieder was von ihm gehört. Nicht zu fassen! Dieser egoistische Scheißkerl! Kim war am Boden zerstört. Noch mehr als unmittelbar nach der Scheidung. Total am Boden zerstört. «
    »Und du meinst, die zeitliche Übereinstimmung ist kein Zufall?«
    »Nein, nein. Damit möchte ich nicht andeuten, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Fall des Guten Hirten und Emilios Verschwinden gibt. Wie sollte das gehen? Es ist bloß, dass beides im gleichen Monat passiert ist – im März 2000. Vielleicht hat Kim so großes Mitgefühl mit den Menschen, die durch diese Morde jemanden verloren haben, weil zur gleichen Zeit ihr Vater verschwand.«
    Jetzt begriff Gurney. »Und für beide hat es keinen Abschluss gegeben …«
    »Ja. Die Morde des Guten Hirten wurden nie geklärt, weil der Täter nicht gefasst wurde. Und Kim konnte mit dem Verschwinden ihres Vaters nicht ins Reine kommen, weil sie nie rausgefunden hat, was eigentlich mit ihm passiert ist. Wenn sie bei den Familien der Mordopfer anhaltendes Leid feststellt, dann redet sie sicher auch über sich selbst.«
    Nach

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