Gute Nacht: Thriller (German Edition)
Blick darauf.
Nach ein oder zwei Minuten holte Gurney sich Kims Projektmappe von der Anrichte. Er überblätterte die Abschnitte Konzept und Übersicht , um anschließend das Kapitel Stil und Methodik zu überfliegen. Schließlich blieb er an einem Satz hängen, den Kim durch Unterstreichung markiert hatte: Befragungen beschäftigen sich mit den bleibenden Folgen der Morde, um alle Aspekte im Leben der Hinterbliebenen und vor allem der Kinder zu erforschen, die sich durch die Tat verändert haben.
Er überflog die nächsten Abschnitte, bis er zum Kapitel Bisheriger Stand der Kontakte gelangte. Die Einteilung folgte der Chronologie der sechs Morde des Guten Hirten. Die Informationen waren als Tabelle mit Spalten unter
drei Überschriften dargestellt: Mordopfer , Verfügbare Hinterbliebene , Aktuelle Haltung zur Teilnahme.
Sein Blick glitt über die Liste von Opfern: Bruno und Carmella Villani, Carl Rotker, Ian Sterne, Sharon Stone, Dr. James Brewster, Harold Blum. Hinter Carmella Villanis Namen stand ein Sternchen, das auf eine Fußnote verwies: »Hat massives Schädeltrauma überlebt, liegt seither im Wachkoma.«
Er übersprang die zweite Spalte, die die Familienmitglieder ausführlich (mit Adresse, Lebenssituation, Alter und persönlicher Beschreibung) auflistete, und wandte sich der Zusammenfassung ihrer »aktuellen Haltung« in der dritten Kolumne zu.
Harold Blums Witwe war offenbar »uneingeschränkt kooperativ, dankbar für das entgegengebrachte Interesse, tief bewegt, weinte bei Erörterung des Themas«.
Dr. Brewsters Sohn wurde beschrieben als »voller Hass gegen seinen Vater, offen mit der Philosophie des GH sympathisierend, besessen von den negativen Auswirkungen des Materialismus«.
Der Sohn des Dentalunternehmers Ian Sterne war »unauffällig, gegen seine Teilnahme, besorgt im Hinblick auf störende emotionale Auswirkungen, skeptisch hinsichtlich der Absichten von RAM TV , kritisch gegen die gnadenlos sensationsgierige Berichterstattung des Senders über die Morde«.
Der Sohn der Immobilienmaklerin Sharon Stone »brachte große Begeisterung für das Projekt zum Ausdruck, sprach bereitwillig über die Stärken seiner Mutter, den Schrecken ihres Todes, die verheerenden Folgen für sein Leben, die unerträgliche Ungerechtigkeit, dass der Mörder nie gefasst wurde«.
Es folgten weitere Familienmitglieder und Zustandsbeschreibungen, die Abschriften von zwei Interviews – mit Jimi Brewster und mit Ruth Blum – sowie eine zwanzigseitige Kopie der »Absichtserklärung« des Guten Hirten. Als Gurney die Mappe schon weglegen wollte, fiel ihm eine letzte Seite mit der Überschrift »Kontakte für Hintergrundinformationen« auf, die in der Inhaltsangabe nicht erfasst war.
Auf dem Blatt standen drei Namen mit E-Mail-Adressen und Telefonnummern: Special Agent Matthew Trout vom FBI , der ehemalige Senior Investigator Max Clinter von der New York State Police und der derzeitige Senior Investigator der NYSP Jack Hardwick.
Erstaunt starrte er den dritten Namen an. Jack Hardwick war ein unglaublich scharfsinniger und unglaublich ungehobelter Detective, zu dem er ein kompliziertes Verhältnis hatte, seitdem sich ihre Wege schon mehrfach unter bizarren und umstrittenen Umständen gekreuzt hat-
ten.
Gurney ging zum Telefon, um Kim anzurufen. Er war daran interessiert, mit Hardwick zu reden, doch vorher wollte er noch herausfinden, warum sie den Mann als Informationsquelle gelistet hatte.
Sie nahm sofort ab. »Dave?«
»Ja.«
»Ich wollte dich gerade anrufen.« Ihre Stimme klang eher angespannt als erfreut. »Deine Unterhaltung mit Schiff hat ziemlich viel Staub aufgewirbelt.«
»Wie das?«
»Er ist hierhergekommen, wahrscheinlich gleich nach dem Gespräch mit dir. Er wollte alles sehen, wovon du ihm erzählt hast. Er war stocksauer, weil ich den Küchenboden aufgewischt habe. War eben Pech. Woher sollte ich wissen, dass er anrückt? Er hat gesagt, später kommt noch jemand von der Spurensicherung, um den Keller zu überprüfen. Bin froh, dass ich mich nicht überwinden konnte, dort unten ebenfalls sauber zu machen. Wenn ich bloß dran denke, läuft’s mir eiskalt über den Rücken! Und er will unbedingt überall in der Wohnung diese gruseligen kleinen Spionagekameras aufstellen.«
»Stimmt es, dass du das vorher abgelehnt hast?«
»Hat er das gesagt?«
»Er hat auch erzählt, dass der Blutfleck im Bad im Labor getestet wurde.«
»Und?«
»Nach deiner Schilderung hatte ich den Eindruck, dass er kaum
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