Gute Nacht: Thriller (German Edition)
Ted Kaczynskis Briefbomben an Opfer, deren Verantwortung für die angeprangerten Probleme allenfalls fragwürdig war.
Der Gute Hirte hatte seinen Ansatz in den ersten zwei Punkten seiner Erklärung ordentlich zusammengefasst: 1. Wenn die Liebe zum Geld, also Gier, die Wurzel allen Übels ist, dann folgt daraus, dass das größte Wohl durch ihre Auslöschung zu erreichen ist. 2. Da Gier nicht im Vakuum existiert, sondern in menschlichen Überträgern, ist das Mittel zur Auslöschung von Gier die Auslöschung ihrer Überträger.
Klarer konnte man es nicht ausdrücken.
Und auch ansonsten war die Mordserie des Guten Hirten denkwürdig. Sie wies alle Elemente eines fesselnden Schauspiels auf: einfache Prämisse, knapper Zeitrahmen, Hochspannung, nachvollziehbare Bedrohung, dramatischer Angriff auf Reichtum und Privilegien, leicht definierbare Opfer, grausige Momente der Konfrontation. Sie war Stoff für Legenden und setzte sich auf ganz natürliche Weise in den Köpfen der Menschen fest. Und das sogar in zweierlei Hinsicht: Für jene, die sich durch einen Angriff auf den Reichtum bedroht fühlten, war der Gute Hirte die Inkarnation eines Bomben werfenden Revolutionärs, der es darauf abgesehen hatte, die größte Nation der Geschichte zu Fall zu bringen; für jene, die in den Reichen Schweine sahen, war der Gute Hirte ein Idealist, ein Robin Hood, der gegen die schlimmsten Ungerechtigkeiten einer ungerechten Welt kämpfte.
Es leuchtete ein, dass der Fall im Laufe der Jahre zum bevorzugten Gegenstand von Psychologie- und Kriminologieseminaren geworden war. Den Professoren machte es Spaß, ihn zu schildern, weil er veranschaulichte, was sie über einen bestimmten Typ von Mörder aussagen wollten, noch dazu auf völlig unzweideutige Weise – ein seltener Glücksfall in den Gesellschaftswissenschaften. Den Studenten wiederum machte es Spaß, von dem Fall zu hören, weil er wie viele einfache Horrorfilme auf groteske Weise unterhaltsam war. Sogar die finale Flucht des Täters in die Nacht kam gut an, weil sie dem Ganzen das Flair eines offenen Endes verlieh.
Als Gurney die Mappe zuklappte, stellte er fest, dass die Faszination, die dieser Fall ausstrahlte, gemischte Gefühle bei ihm hinterließ.
»Probleme?«
Er schaute auf zu Madeleine, deren Stricknadeln still auf ihrem Schoß ruhten.
Er schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich nur meine angeborene Griesgrämigkeit.«
Madeleine musterte ihn noch immer.
Er wusste, dass sie auf eine bessere Antwort wartete. »In Kims Dokumentarreihe geht es nur um den Fall des Guten Hirten.«
Madeleine runzelte die Stirn. »Ist das nicht schon völlig ausgelutscht? Damals im Fernsehen wurde doch fast über nichts anderes berichtet.«
»Ja, aber du erinnerst dich an ihren Ansatz. Damals war nur die Rede von dem Manifest, von der Jagd auf den Mörder und von Theorien über seinen Werdegang, seine Ausbildung, sein Versteck, Gewalt in Amerika, laxe Waffengesetze, blablabla. Kim ignoriert das alles und konzentriert sich auf den bleibenden Schaden für die Familien der Opfer – wie ihr Leben verändert wurde.«
Madeleine nickte nachdenklich, dann runzelte sie erneut die Stirn. »Und was ist das Problem?«
»Ich krieg es nicht genau zu fassen. Vielleicht liegt es nur an mir. Wie gesagt, ich bin nicht besonders guter Laune.«
7
Ahab der Waljäger
Der nächste Morgen, der zweite Frühlingstag in den Catskills, war kalt und bedeckt, und vereinzelt wehten sogar Schneeflocken an der Terrassentür der Gurneys vorbei.
Um acht Uhr rief Kim an, sie hatte ihre Pläne geändert. Das Vormittagstreffen in Turnwell mit Jimi Brewster fiel aus, stattdessen würden sie am Nachmittag nach Stone Ridge zu Larry Sterne fahren, der ungefähr zwanzig Minuten vom Ashokan-Stausee entfernt wohnte. Die Verabredung zum Mittagessen mit Rudy Getz in Ashokan blieb bestehen.
»Gibt es einen besonderen Grund für diese Änderung?«, fragte Gurney.
»Irgendwie schon. Die urprünglichen Termine hab ich vereinbart, als ich noch nicht wusste, dass du mich unterstützt. Larry ist distanzierter als Jimi, deswegen hätte ich dich gern bei ihm dabei. Jimi vertritt ziemlich linke Anschauungen, deshalb wird er auf jeden Fall mitmachen – das ist seine Bühne für den Angriff auf den Materialismus. Mit Larry ist es nicht so einfach. Er hält anscheinend generell nicht viel von den Medien, wegen der Sensationsgier, mit der vor einigen Jahren über den Tod einer Bekannten von ihm berichtet wurde.«
»Dir ist aber klar, dass
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