Gute Nacht: Thriller (German Edition)
dem Gespräch mit Connie blieb Gurney lange am Tisch sitzen und versuchte zu ergründen, was der Abschied von Emilio Corazon für Kims Leben bedeutete.
Nach einiger Zeit drang das leise, regelmäßige Klicken von Madeleines Stricknadeln zu ihm durch. Sie saß in einem Kreis aus gelbem Licht, neben ihr im Sessel lag ein Knäuel salbeifarbenes Garn, und auf ihrem Schoß nahm ein Pullover Gestalt an.
Er schlug die blaue Mappe auf und suchte nach dem Abschnitt über die »Absichtserklärung« des Guten Hirten. Auf einer Seite mit Hintergrundinformationen wurde erklärt, dass das Orginaldokument als Eilsendung in einem zweiundzwanzig mal dreißig Zentimeter großen Umschlag an den Leiter des Bureau of Criminal Investigation ( BCI ) der New York State Police zugestellt worden war. Und zwar am 25. März 2000, dem Mittwoch nach dem Wochenende, an dem die ersten zwei Morde begangen worden waren.
Gurney blätterte um und las den Text der Erklärung. Sie begann völlig unvermittelt mit einer Zusammenfassung in durchnummerierten Sätzen:
1. Wenn die Liebe zum Geld, also Gier, die Wurzel allen Übels ist, dann folgt daraus, dass das größte Wohl durch ihre Auslöschung zu erreichen ist. 2. Da Gier nicht im Vakuum existiert, sondern in menschlichen Überträgern, ist das Mittel zur Auslöschung von Gier die Auslöschung ihrer Überträger. 3. Der Gute Hirte hegt seine Herde, indem er die kranken Schafe von den gesunden trennt, weil es richtig ist, die Ausbreitung einer Seuche zu verhindern. Es ist richtig, die guten Tiere vor den schlechten zu schützen. 4. Obschon Geduld eine Tugend darstellt, ist es keine Sünde, die Geduld mit der Gier zu verlieren. Es ist keine Sünde, zu den Waffen zu greifen gegen Wölfe, die Kinder zerreißen. 5. Dies ist unsere Kriegserklärung gegen die eitlen Überträger der Gier, die Taschendiebe, die sich selbst als Banker bezeichnen, die Limousinen-Läuse und Mercedes-Maden. 6. Wir werden die Erde von diesem schlimmsten aller Erreger befreien, einen Überträger nach dem anderen, und das passive Schweigen ersetzen durch das Zerschmettern von Schädeln, bis die Erde wieder sauber, die Herde wieder gesund und die Wurzel allen Übels ausgemerzt ist.
Die nächsten neunzehn Seiten wiederholten diese Parolen ausführlich und schwankten dabei im Ton zwischen prophetisch und akademisch. Die rationalen Aspekte der Argumentation wurden durch detaillierte Daten zur Wohlstandsverteilung gestützt, um die Ungerechtigkeit der Wirtschaftsstruktur in Amerika zu beweisen – samt statistischen Trends, die das Abdriften der Nation in eine Dritte-Welt-Ökonomie mit starker Konzentration von Reichtum an der Spitze, wachsender Armut und schrumpfender Mittelschicht belegten. Zuletzt kam das Fazit des Dokuments:
Diese krasse und zunehmende Ungerechtigkeit wird befeuert durch die Gier der Mächtigen und die Macht der Gierigen. Darüber hinaus übt diese gemeine und alles verschlingende Klasse eine nahezu vollkommene Kontrolle über die Medien aus – den Hauptmotor für den Wandel in der Gesellschaft. Die Kommunikationskanäle (die unabhängige Einflussfaktoren des Wandels sein könnten) befinden sich im Besitz und unter der Regie von Megakonzernen und einzelnen Milliardären, deren Interessen von den virulenten Zügen der Gier gelenkt werden. Dies ist die verzweifelte Lage, die uns zu einer unausweichlichen Folgerung, zu einem klaren Entschluss und zu unmittelbarem Handeln zwingt.
Unterzeichnet war das Schriftstück mit Der Gute Hirte.
In einer gesonderten, an die letzte Seite gehefteten Notiz hatte der Verfasser genaue Zeit- und Ortsangaben zu den zwei vorangegangenen Anschlägen gemacht.
Die Tatsache, dass diese Fakten noch nicht an die Medien weitergegeben worden waren, bestätigte seine Behauptung, der Täter zu sein. Eine Nachbemerkung zu der Notiz wies darauf hin, dass Kopien des gesamten Dokuments gleichzeitig an eine lange Liste von nationalen und lokalen Nachrichtensendern und Printmedien gesandt worden waren.
Gurney ging alles noch einmal durch. Als er die Mappe eine halbe Stunde später weglegte, begriff er, weshalb dieser Fall in der Kriminologie einen geradezu ikonenhaften Status erlangt hatte und dabei sogar den Unabomber als akademischen Archetyp für Morde mit gesellschaftlichem Anliegen verdrängt hatte.
Das Dokument war klarer und weniger geschwätzig als das Manifest des Unabombers. Der logische Zusammenhang zwischen dem dargelegten Missstand und der mörderischen Lösung schien direkter als
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