Gute Nacht: Thriller (German Edition)
infrage. Der Elektriker, den ich angerufen habe, verlangt mindestens hundertfünfzig Dollar fürs Kommen. Und freundliche Nachbarn gibt’s hier nicht.« Sie stockte. »Das ist also mein dummes, kleines Problem. Hast du vielleicht eine Idee?«
»Bist du jetzt in der Wohnung?«
»Nein. Ich bin wieder raus und hab mich ins Auto gesetzt. Es wird dunkel, und ich möchte nicht ohne Licht da drinnen sein. Da müsste ich ständig an den Keller denken und was dort unten sein könnte.«
»Wäre es möglich, dass du nach Hause zu deiner Mutter fährst und dortbleibst, bis das geregelt ist?«
»Nein!« Ihre Reaktion war genauso wütend wie bei seinem letzten derartigen Versuch. »Das ist nicht mehr mein Zuhause – mein Zuhause ist hier. Ich renne nicht wie ein verschrecktes kleines Mädchen zu meiner Mommy, bloß weil irgendein Arschloch Spielchen mit mir treibt.«
Doch für Gurney klang sie genau wie ein verschrecktes kleines Mädchen, das versuchte, sich wie eine erwachsene Frau zu benehmen. Das Bild erfüllte ihn mit einem fast schmerzhaften Gefühl von Sorge und Verantwortung.
»Also schön.« Im letzten Moment steuerte er auf die rechte Spur, um die nächste Ausfahrt zu erwischen. »Bleib, wo du bist. In zwanzig Minuten bin ich bei dir.«
Da er den größten Teil der Strecke mit hundertdreißig Stundenkilometern gefahren war, erreichte er schon neunzehn Minuten später Kim Corazons verwahrlosten Block in Syracuse und parkte vor ihrem Apartment. Die Dämmerung hatte sich zur Nacht verdichtet, und Gurney erkannte die Gegend, die er gestern bei Tageslicht gesehen hatte, kaum wieder. Er griff in sein Handschuhfach und nahm eine schwere Metalltaschenlampe heraus.
Als er die Straße überquerte, stieg Kim aus ihrem Wagen.
Sie wirkte nervös und verlegen. »Ich komm mir so blöd vor.« Sie verschränkte die Arme fest vor der Brust, als müsse sie ein Zittern verbergen.
»Warum?«
»Das ist, als hätte ich Angst vor der Dunkelheit. Angst vor meiner eigenen Wohnung. Und jetzt bist du extra wegen mir umgekehrt, einfach schrecklich.«
»Umzukehren war meine Entscheidung. Willst du hier draußen warten, während ich drinnen nachsehe?«
»Nein. Ich bin schließlich kein Kind mehr. Ich geh mit dir.«
Gurney fiel ein, dass er diese Unterhaltung schon einmal mit ihr geführt hatte, und widersprach nicht.
Sowohl der Hauseingang als auch Kims Apartmenttür waren unverschlossen. Er ging mit seiner Taschenlampe voraus, sie folgte ihm. Als er zu mehreren Schaltern an der Flurwand kam, knipste er sie an und aus: nichts. Von der Wohnzimmertür aus leuchtete er in den Raum. Das Gleiche machte er im Bad und im Schlafzimmer, ehe er in den hinteren Raum trat: die Küche.
Langsam ließ er den Lichtstrahl kreisen. »Hast du dich überhaupt umgesehen, bevor du raus zum Auto bist?«
»Nur ganz schnell. In die Küche hab ich kaum einen Blick geworfen. Und der Kellertür bin ich garantiert nicht nahe gekommen. Der Schalter für die Deckenlampe hat nicht funktioniert. Ansonsten ist mir bloß noch aufgefallen, dass die Zeitanzeige an der Mikrowelle aus war. Also muss es an der Sicherung liegen, oder?«
»Ich denke schon.«
Er trat in die Küche. Kim war dicht hinter ihm und hatte ihm im Halbdunkel die Hand auf den Rücken gelegt. Das einzige Licht kam vom Strahl der Taschenlampe, der über die Wände und Geräte huschte. Dann hörte er ein leises, einmaliges Pochen. Er stoppte und lauschte angestrengt. Nach einigen Sekunden kam das Geräusch wieder, und er erkannte, dass es nur das langsame Tropfen des Wasserhahns war.
Behutsam steuerte er auf den hinteren Flur zu, der von der Küche zur Kellertreppe und zur rückwärtigen Tür des Hauses führte. Kims Hand glitt von seinem Rücken zum Arm, den sie fest umklammerte. Im Flur erkannte er, dass die Kellertür geschlossen war. Auch die Außentür am Ende des Flurs war anscheinend mit dem Bolzenschloss verriegelt. Das Geräusch des tropfenden Wasserhahns in der Küche schien von dem engen Raum verstärkt zu werden.
Als er zur Kellertür kam und sie öffnen wollte, bohrten sich Kims Finger in seinen Arm.
»Ganz ruhig«, sagte er leise.
»Entschuldigung.« Sie lockerte ihren Griff ein klein wenig.
Er schob die Tür auf und leuchtete die Stufen hinunter. Lauschte.
Tropf … Tropf …
Sonst kein Laut.
Er wandte sich zu Kim um. »Bleib hier bei der Tür.«
Sie sah verängstigt aus.
Er suchte nach Worten – etwas Belangloses, vielleicht eine ablenkende Frage –, um sie zu beruhigen.
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