Gute Nacht: Thriller (German Edition)
den Deckel hochzuklappen, sondern die Truhe zuerst ein Stück zu verschieben. Er stopfte die Maglite in die Jackentasche und packte die Truhe an einer Ecke, um sie beiseitezuzerren. Der Tritt, mit dem er den Deckel öffnete, bestätigte nur, was er schon beim Anheben gespürt hatte: Die Truhe war leer.
Kim stand jetzt auf halber Höhe der Treppe und spähte wie eine verängstigte Katze in alle Ecken. Dann blieb ihr Blick an der zerborstenen Stufe hängen. »Du hättest tot sein können.« Sie bekam große Augen. »Sie ist einfach so durchgebrochen, als du draufgestiegen bist?«
»Einfach so«, antwortete er.
Als sie voller Entsetzen die Stelle betrachtete, wo er gestürzt war, berührte ihn ihr naiver Gesichtsausdrucks. Diese junge Frau, die eine so ehrgeizige Dokumentarreihe über die grauenvollen Folgen von Morden plante, erschütterte die bloße Vorstellung, dass das Leben gefährlich war.
Ihrem Blick folgend, wandte er sich nun ebenfalls dem Riss im Holz zu und bemerkte sofort, was ihr anscheinend entgangen war: Die Stufe war auf beiden Seiten fast komplett durchgesägt worden.
Als er sie darauf aufmerksam machte, runzelte sie verwirrt die Stirn. »Meinst du? Aber das kann doch gar nicht sein.«
Er sagte nur: »Ein Rätsel mehr.«
Als er jetzt im Bett zur Decke starrte und sich ohne große Wirkung den Arm rieb, ließ er sich die Tragweite dieser Feststellung noch einmal genauer durch den Kopf gehen.
Der Sabotageakt war wahrscheinlich das Werk des flüsternden Eindringlings. Anzunehmen, dass er es auf Kim abgesehen hatte und dass er, Gurney, nur zufällig zum Opfer geworden war.
Das Ansägen einer Treppenstufe war ein Kriminalfilmklischee. Bei Licht waren die Spuren nicht zu übersehen. Kein Zweifel, dass die Stufe nicht zufällig durchgebrochen war. Und das hieß, sie sollten entdeckt werden. In diesem Sinn waren sie also Teil einer Warnung.
Dazu gehörte vielleicht auch die Wahl einer der unteren Stufen, deren Präparierung zu einem bösen Sturz führen musste, aber eben nicht so böse wie von weiter oben. Kein tödlicher Sturz also. Noch nicht.
Die Botschaft ließ sich leicht deuten: Wenn du meine Warnungen ignorierst, wird die Sache härter. Schmerzvoller. Vielleicht sogar lebensgefährlich.
Aber wovor genau wurde Kim gewarnt? Die naheliegende Antwort war ihre Dokumentarreihe. Vielleicht ließ sich die Botschaft ja präziser fassen: Finger weg, Kim, hör auf, in der Vergangenheit rumzustochern, sonst musst du mit furchtbaren Konsequenzen rechnen. Im Fall des Guten Hirten schlummert ein Teufel, den du lieber nicht aufwecken solltest.
Hieß das, dass der Eindringling jemand war, der mit dem berühmtem Fall in Verbindung stand? Jemand mit einem ernsten Interesse daran, dass alles so blieb, wie es war?
Oder ging das Ganze doch auf das Konto des miesen kleinen Robby Meese, wie Kim vermutete?
War es denkbar, dass alle Belästigungen der jüngsten Zeit, alle Übergriffe gegen ihren inneren Frieden von ihrem jämmerlichen Exfreund ausgegangen waren? War er so krankhaft verbittert darüber, dass Kim die Beziehung zu ihm beendet hatte? Konnte es sein, dass hinter allem – gelockerten Glühbirnen, fehlenden Messer, Blutflecken, angesägten Stufe und sogar hinter dem dämonischen Flüstern – nackte Eifersucht und der Wunsch nach Rache steckten?
Nun, vielleicht war Meese tatsächlich der Täter. Aber wenn, wurde er angetrieben von Motiven, die dunkler und schräger waren als oberflächliche Bosheit. Möglicherweise warnte er Kim, dass sein Hass sich zu etwas wahrhaft Grauenhaftem auswachsen konnte, wenn sie sich nicht mit ihm versöhnte. Dass er zu einem Monster werden konnte, einem Teufel.
Vielleicht begriff Kim einfach nicht, wie pathologisch Meeses Innenleben war. Jedenfalls schien Gurney dieses Flüstern in seiner Intensität extrem pathologisch zu sein. Und damit tat sich eine weitere Möglichkeit auf. Eine, die Gurney am meisten Angst machte. Eine Möglichkeit, der er kaum in die Augen blicken konnte.
Die Möglichkeit, dass es kein Flüstern gegeben hatte.
Angenommen, alles, was er gehört hatte, war die Folge seines Sturzes, eine Art Halluzination? Angenommen, das »Geräusch« war nur durch die neuerliche Erschütterung nach einer kaum verheilten Kopfverletzung ausgelöst worden? Schließlich war auch der leise pfeifende Tinnitus in seinen Ohren kein echtes Pfeifen, sondern, wie Dr. Huffbarger erklärt hatte, lediglich eine kognitive Fehldeutung. Angenommen, die geflüsterte Drohung – mit
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