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Gute Nacht: Thriller (German Edition)

Gute Nacht: Thriller (German Edition)

Titel: Gute Nacht: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Verdon
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und tun. Ich möchte behaupten, dass Nachahmung ein Erhaltungstrieb der menschlichen Gattung ist, genauso unentbehrlich wie Sex. Diese schlichte Idee ist revolutionär. Nachahmung wurde nie als Trieb klassifiziert, das heißt als Ansporn zum Handeln oder auch zur Tat, bedingt durch den Auf- und Abbau von Spannung. Aber ist sie nicht genau das?«
    Sie hielt inne. Im Publikum herrschte vollkommene Stille.
    »Die wohl aufschlussreichste und am wenigsten wahrgenommene Eigenschaft von Nachahmung ist, dass sie sich gut anfühlt . Der Vorgang des Nachahmens verschafft dem menschlichen Organismus eine Art von Lust – einen Abbau von Spannung. In allem, was wir tun, liegt eine Neigung zur Wiederholung – weil es sich gut anfühlt.«
    Holdenfields Augen leuchteten, und das Publikum wirkte wie gebannt.
    »Wir genießen es zu sehen, was wir schon einmal gesehen haben, und zu tun, was wir schon einmal getan haben. Das Gehirn strebt nach Musterresonanz , weil Resonanz Lustgewinn bedeutet.«
    Sie trat vom Pult weg, als suche sie einen direkteren Kontakt zu den Zuhörern. »Das Überleben einer Gattung hängt davon ab, dass jede neue Generation in der Lage ist, das Verhalten der vorausgegangenen zu reproduzieren. Diese Reproduktion kann auf einer genetischen Programmierung oder auf Lernen beruhen. Das Verhalten von Ameisen wird stark von genetischer Programmierung gesteuert. Bei uns Menschen hingegen steht das Lernen stärker im Vordergrund. Insektengehirne wissen bei der Geburt praktisch schon alles, was sie wissen müssen, während menschliche Gehirne bei der Geburt praktisch nichts von dem wissen, was sie wissen müssen. Das Überlebensgebot für Insekten heißt handeln. Das Überlebensgebot für Menschen heißt lernen. Ein Insekt wird von seinen Trieben zu bestimmten Handlungsweisen innerhalb seines Lebenszyklus angespornt. Wir hingegen werden vom Nachahmungstrieb dazu angespornt zu lernen, wie man handelt. «
    Soweit Gurney das von seinem Platz in der letzten Reihe beurteilen konnte, hingen alle Anwesenden an ihren Lippen. In diesem Saal war sie ein Rockstar.
    »In diesem Trieb liegen die Wurzeln für Kunst, Gewohnheit, die Freude an Kreativität, den Schmerz der Frustration. Viel menschliches Leid entsteht daraus, dass dem Nachahmungstrieb externe Belohnungen und Strafen entgegenstehen. Nehmen wir den Fall eines Vaters, der sein Kind schlägt, um es für das Schlagen eines anderen Kindes zu bestrafen. Damit werden zwei Lehren vermittelt: Schlagen ist die falsche Reaktion auf ein Verhalten, das wir anstößig finden (da es bestraft wird), und Schlagen ist die richtige Reaktion auf ein Verhalten, das wir anstößig finden (da es als Strafe vorgeführt wird). Ein Vater, der sein Kind schlägt, um ihm beizubringen, dass es nicht schlagen soll, bringt ihm faktisch bei, dass es schlagen soll. Das Potenzial für psychische Schäden ist riesig, wenn das vorgeführte Verhalten zugleich das bestrafte Verhalten ist.«
    Nach Gurneys Eindruck wiederholte Holdenfield in der nächsten halben Stunde nur, was sie bereits gesagt hatte. Doch das Publikum wirkte keineswegs gelangweilt, sondern im Gegenteil restlos fasziniert. Mit dramatischen Gesten lief sie in dem großen Tagungsraum auf und ab und sah aus, als befände sie sich bereits in dem Paradies, das sie sich immer erträumt hatte.
    Schließlich kehrte sie mit einem geradezu triumphierenden Gesichtsausdruck an ihren Platz hinter dem Pult zurück. »Deshalb bitte ich Sie zu erwägen, ob nicht die Befriedigung des Nachahmungstriebs das bedeutendste fehlende Glied in unserem Verständnis der menschlichen Natur sein könnte. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.«
    Begeisterter Beifall brandete durch den Saal. In der ersten Reihe erhob sich ein weißhaariger Zuhörer mit rotem Gesicht und wandte sich mit der besänftigenden Stimme eines erfahrenen Rundfunkmoderators an die anderen Besucher: »Im Namen unseres Verbands möchte ich mich bei Dr. Holdenfield für diesen bemerkenswerten Vortrag bedanken. Sie hat versprochen, uns Stoff zum Nachdenken zu geben, und dieses Versprechen hat sie zweifellos gehalten. Ein äußerst interessanter Ansatz. In etwa einer Viertelstunde öffnet die Bar, und es gibt ein schönes Buffet. Bis dahin haben Sie noch Gelegenheit zu Fragen und Anmerkungen. Sind Sie damit einverstanden, Rebecca?«
    »Natürlich.«
    Die folgenden »Fragen« bestanden zum größten Teil aus Lob für ihre originelle Denkweise und aus Genugtuung über ihr Erscheinen. Nach zwanzig

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