Gute Nacht: Thriller (German Edition)
erdenklichen Hinsicht. Seine Handlungen, sein Denken, seine Sprache, seine Motive – alles passt perfekt. Dieser Fall ist eine der klarsten Bestätigungen für das Konzept. Morde im Namen eines gesellschaftlichen Anliegens drehen sich in Wirklichkeit nie um die vordergründigen Ziele. Hinter dem angeblichen Motiv des Täters steckt immer eine andere Energiequelle, die auf eine oder mehrere traumatische Erfahrungen in seinem früheren Leben zurückgeht. Diese Erfahrungen haben einen ganzen Keller voller verdrängter Angst und Wut erzeugt. Über einen Assoziationsprozess verbindet er die vergangenen Erlebnisse mit gegenwärtigen Ereignissen, und seine aktuellen Gedanken werden von den alten Gefühlen belebt. Aufgrund unserer Veranlagung sind wir davon überzeugt, dass unsere jetzigen Gefühle die Folge unserer jetzigen Erlebnisse sind. Wenn ich glücklich oder traurig bin, gehe ich davon aus, dass es an etwas in meinem aktuellen Leben liegt, das gut oder schlecht läuft – und nicht etwa davon, dass ein Stück emotionaler Energie aus einer verdrängten Erinnerung in die Gegenwart übertragen wurde. Normalerweise ist dieser Irrtum harmlos. Aber wenn es sich bei der übertragenen Emotion um verdrängte Wut handelt, ist die Sache nicht mehr ganz so unbedenklich. Und genauso läuft es bei einer bestimmten Art von Mördern – der Gute Hirte ist das beste Beispiel dafür.«
»Haben Sie eine Vorstellung, was für eine Kindheitserfahrung mittels Energieübertragung zu diesen Morden geführt haben könnte?«
»Ich vermute, dass es sich um den traumatischen Terror eines gewalttätigen, materialistischen Vaters handelt.«
»Und warum hat er dann nach sechs Taten aufgehört?«
»Haben Sie schon mal überlegt, dass er tot sein könnte?« Mit alarmiertem Stirnrunzeln schaute Holdenfield auf ihre
Uhr. »Tut mir leid, David. Ich hab wirklich keine Zeit mehr.«
»Danke, dass Sie mich noch in Ihren vollen Terminkalender reingezwängt haben. Ach übrigens, haben Sie bei Ihrem Studium des Falls je mit Max Clinter geredet?«
»Ha, Clinter! Ja, natürlich. Was ist mit ihm?«
»Das ist meine Frage an Sie.«
Nach einem ungeduldigen Seufzen sprach sie sehr schnell. »Max Clinter ist ein wütender Narzisst, der glaubt, der Fall des Guten Hirten dreht sich um ihn. Er steckt voller sinnloser Verschwörungstheorien. Außerdem ist er ein hemmungsloser Alkoholiker, der an einem einzigen verhängnisvollen Abend sein Leben und das seiner Familie verpfuscht hat. Und seitdem versucht er, die schrägsten logischen Verbindungen herzustellen, um zu beweisen, dass alle schuld sind, bloß er nicht.«
»Warum meinen Sie, dass er tot ist?«
»Was?«
»Sie haben angedeutet, dass der Gute Hirte tot sein könnte.«
»Genau. Könnte. «
»Warum hätte er sonst aufgehört?«
Diesmal fiel das ungeduldige Seufzen eine Spur theatralischer aus. »Vielleicht hat ihn eine von Clinters Kugeln nur knapp verfehlt oder sogar getroffen. Vielleicht hatte er einen Zusammenbruch, eine psychotische Dekompensation. Oder sitzt aufgrund von Ereignissen, die nichts mit den Morden zu tun haben, in einer psychiatrischen Klinik oder auch im Gefängnis. Jede Menge Faktoren könnten dafür verantwortlich sein, dass er von der Bildfläche verschwunden ist. Doch solche Spekulationen sind sinnlos, solange es keine weiteren Hinweise gibt.« Holdenfield stand vom Tisch auf. »Entschuldigung. Ich muss los.« Mit einem knappen Nicken wandte sie sich ab, um auf die Tür zum Hotelfoyer zuzusteuern.
Gurney rief hinter ihr her: »Gibt es irgendwelche Interessen, die einer Neuuntersuchung entgegenstehen?«
Sie drehte sich um und starrte ihn an. »Was meinen Sie damit?«
»Ich habe vorhin die junge Frau erwähnt, die diese Dokumentarreihe macht. Ihr sind seltsame Dinge zugestoßen. Dinge, die sich als Drohungen deuten ließen. Oder zumindest als nicht besonders freundliche Aufforderung, die Finger von dem Projekt zu lassen.«
Holdenfield schien verblüfft. »Zum Beispiel?«
»Unbefugtes Eindringen in ihre Wohnung, Verräumen persönlicher Gegenstände, Verschwinden von Küchenmessern, die plötzlich an Orten auftauchen, wo sie nicht hingehören, Blutstropfen, Ausschalten von Sicherungen, eine angesägte Stufe an der Kellertreppe, um einen Sturz herbeizuführen …« Im letzten Moment verzichtete er darauf, die geflüsterte Warnung zu erwähnen, weil er sich dabei allzu unsicher fühlte. »Es besteht die Möglichkeit, dass sie aus anderen Gründen belästigt wird, dass die
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