Gute Nacht: Thriller (German Edition)
Minuten trat der Weißhaarige erneut nach vorn, bedankte sich noch einmal respektvoll im Namen des Verbands und verkündete, dass die Bar jetzt geöffnet sei.
»Interessant.« Gurney setzte ein schiefes Lächeln auf.
Holdenfield bedachte ihn mit einem Blick, der halb forschend und halb streitbar war. Sie saßen an einem kleinen Tisch auf einer Veranda, von der der Blick auf einen gepflegten, mit Buchsbäumen durchsetzten Rasen ging. Die Sonne schien, und der See im Hintergrund war so blau wie der Himmel. Zu ihrem beigen Kostüm und der weißen Seidenbluse trug sie kein Make-up und keinen Schmuck, mit Ausnahme einer ziemlich teuer aussehenden goldenen Armbanduhr. Das kastanienbraune Haar war locker frisiert, weder besonders lang noch besonders kurz. Sie musterte ihn mit ihren dunklen Augen. »Sie sind ziemlich früh gekommen.«
»Wenn ich schon die Gelegenheit habe, kann ich gleich was dazulernen.«
»Über philosophische Psychologie?«
»Über Sie und Ihre Denkweise.«
»Meine Denkweise?«
»Mich interessiert, wie Sie zu Ihren Schlüssen gelangen.«
»Ganz allgemein? Oder haben Sie besondere Fragen, die Sie für sich behalten?«
Er lachte. »Wie geht’s?«
»Was?«
»Sie sehen hervorragend aus. Wie geht es Ihnen?«
»Ganz gut, glaube ich. Auf jeden Fall hab ich viel zu tun.«
»Scheint sich zu lohnen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ruhm. Ansehen. Beifall. Bücher. Artikel. Vorträge.«
Sie nickte, dann neigte sie den Kopf und musterte ihn erwartungsvoll. »Also?«
Er blickte hinaus auf den schimmernden See. »Ich staune nur über Ihre Karriere. Zuerst ein großer Name in der forensischen Psychologie, jetzt ein großer Name in der philosophischen Psychologie. Die Marke Holdenfield expandiert und brilliert. Ich bin beeindruckt.«
»Von wegen. So leicht sind Sie nicht zu beeindrucken. Was wollen Sie?«
Er zuckte die Achseln. »Ich bräuchte ein wenig Hilfe, um den Fall des Guten Hirten besser zu verstehen.«
»Warum?«
»Lange Geschichte.«
»Geben Sie mir die Kurzfassung.«
»Die Tochter einer alten Bekannten produziert eine Dokumentarreihe fürs Fernsehen über die Hinterbliebenen der Opfer des Guten Hirten. Sie will, dass ich ihr über die Schulter schaue und als eine Art Polizeiberater für sie fungiere und so weiter.« Auch jetzt, als er es aussprach, nagte das unscharf definierte Und-so-weiter an ihm.
»Was möchten Sie wissen?«
»Viel. Schwer zu sagen, wo ich anfangen soll.«
Ungeduldig zuckte es um ihre Mundwinkel. »Irgendwo wäre besser als nirgendwo.«
»Musterresonanz.«
Sie blinzelte. »Ja?«
»Diesen Ausdruck haben Sie heute in Ihrem Vortrag verwendet. Und für einen Fachartikel, den Sie vor einigen Jahren geschrieben haben. Was bedeutet der Begriff?«
»Haben Sie den Artikel gelesen?«
»Der lange Titel hat mich abgeschreckt. Ich dachte, der Text ist mir bestimmt zu hoch.«
»Mein Gott, Sie sind so ein Quatschkopf.« Aus ihrem Mund klang es wie ein Kompliment.
»Erzählen Sie mir was über Musterresonanz.«
Sie schielte auf ihre Uhr. »Weiß nicht, ob die Zeit dafür reicht.«
»Versuchen Sie es.«
»Es bezieht sich auf die Energieübertragung zwischen mentalen Konstrukten.«
»Und im Wortschatz eines bescheidenen pensionierten Detective, der in der Bronx geboren ist, hieße das …?«
Ihre Augen funkelten amüsiert. »Es ist eine Abwandlung von Freuds Begriff der Sublimierung – die erzwungene Umlenkung gefährlicher aggressiver oder sexueller Energien in sichere Alternativkanäle.«
»Rebecca, bescheidene pensionierte Detectives sprechen eine schlichtere Sprache.«
»Verdammt, Gurney, Sie gehen mir auf die Nerven mit Ihrem Gerede. Na schön, wie Sie meinen. Vergessen wir Freud. Es gibt ein bekanntes Gedicht über ein Mädchen namens Margaret, das beim Fallen der Blätter im Herbst Trauer empfindet. Die letzten zwei Zeilen lauten: ›Es ist Welken, für das wir geboren / Es ist Margaret, um die du trauerst.‹ Das ist Musterresonanz. Die intensiven Gefühle beim Anblick der sterbenden Blätter rühren in Wirklichkeit von dem Wissen um ihr eigenes, unausweichliches Schicksal her.«
»Sie wollen also darauf hinaus, dass sich die emotionale Energie einer Erfahrung auf eine andere übertragen lässt, ohne …«
»Ohne dass wir erkennen, dass unsere aktuellen Gefühle vielleicht nicht dem aktuellen Geschehen entspringen. Genau, das meine ich!« Stolz schwang in ihrer Stimme mit.
»Und wie lässt sich das auf den Guten Hirten anwenden?«
» Wie? In jeder nur
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