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Guten Morgen, Tel Aviv

Guten Morgen, Tel Aviv

Titel: Guten Morgen, Tel Aviv Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hoeftmann
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was ich besonders an ihm mag: Er ist für alle da. Hier treffen sich Touris und Einheimische, Soldaten (vor allem Freitags), Szene-Hippster, Lubawitscher und eben der Messias. Die Lubawitscher sind übrigens orthodoxe Juden, die säkulare Religionsgenossen zu einem orthodoxeren Leben führen wollen. Sie und der Messias ignorieren einander angestrengt.
    Ähnlich durcheinander ist die Ben-Yehuda-Straße, die parallel zum Strand verläuft. Nur im Sommer scheinen hier ausschließlich französische Touristen zu leben. Für den Rest des Jahres pflegt die Straße ihre Konzeptlosigkeit. Obwohl relativ schlotterig und hässlich, ist sie geprägt von gehobenen Souvenirshops und teureren Kunstgalerien. Auch einen Pelzladen sowie ein iranisches Teppichgeschäft kann man auf der Ben Yehuda finden. Die Straße hat kein System, sie steht damit stellvertretend für die Stadt. Neben ihr liegt, nur einen Katzensprung entfernt, die Hochzeitsstraße.
    In Israel ist heiraten elementar. Alle Eltern scheinen einzig und allein darauf hinzuarbeiten, dass sie ihre Kinder erfolgreich vermählen. Wenn es dann so weit ist, strömen die Israelis zur Dizengoff-Straße. Hier reiht sich ein Brautmodengeschäft an das nächste. Ganze Schuhläden bieten ausschließlich weiße Treter an. Dazwischen finden Angehörige Festtagsmode und Anzüge (nicht, dass die irgendjemand hier wirklich tragen würde). Von den Anzügen ist es dann nicht mehr weit nach Europa. Der Basel-Platz und seine kleinen Straßen erinnern mit ihren Cafés, Restaurants und kleinen Geschäften an den Berliner Prenzlauer Berg. In Basel leben die High-Techies und hypererfolgreichen Mittdreißiger bis Mittvierziger, bevor sie ihre Häuser in Tel Aviver Vororten beziehen. Die Parkplätze um den Basel-Platz sind von einer hohen Luxuskarossendichte geprägt.
    Wir könnten jetzt noch weiter nach Bnei Brak tuckern, in das ultraorthodoxe Schtetl, das direkt vor Tel Aviv liegt, oder zum Diamond-Distrikt voller glänzender Hochhäuser, oder nach Montefiore mit all seinen Autowerkstätten, aber wir rollern müde nach Hause. Immerhin haben wir heute Abend schon die ganze Welt gesehen. Im kleinen Tel Aviv. Inklusive Messias.

Zeit
    Zu Weihnachten gab es bei uns dieses Jahr Uhren. Mein Vater schenkte meiner Mutter eine, meine Mutter meinem Vater, und ich bekam nicht nur eine Armband-, sondern auch noch eine Wanduhr. Das macht rekordverdächtige vier Uhren pro drei Personen pro ein Weihnachtsfest. Und Moment mal, beim genaueren Hinsehen – hingen da nicht mindestens 20 Uhren im Haus meiner Eltern herum? Sollten wir etwa einen Uhrentick haben? Mitnichten. Wenn ich mich in meinem Heimatland so umschaue, stelle ich beruhigt fest, dass wir völlig normal sein müssen. Denn in Deutschland stehen überall Tausende öffentliche Uhren auf den Straßen. Pro U-Bahn-Station in Berlin ticken mindestens fünf Zeitanzeiger, auf jedem Gleis! Im Radio wird die Zeit ungefähr alle 15 Minuten durchgegeben. Und alle meine deutschen Freunde tragen immer ein schmuckes Gerät am Handgelenk, das ihnen sagt, ob es spät oder früh ist.
    In Israel gibt es praktisch keine öffentlichen Zeitmessgeräte. Selbst an Bushaltestellen sucht man danach vergebens. Meine Freunde hier tragen kaum Armbanduhren, sie sagen, das sei nicht nötig. Mein wunderbarer Lebensgefährte besitzt zwar zwei, aber eine hat er von meinen Eltern bekommen, die andere von mir. Zeit hat eine andere Bedeutung in Israel. Zeit ist weit im Heiligen Land. Wenn Israelis jüdische Feiertage begehen, feiern sie, als wären sie selbst dabei gewesen. Was vor 5000 Jahren passierte, geschieht dann auch im Hier und Jetzt in einer Zweiraumwohnung in Haifa: »Als wir aus Ägypten auszogen«, »Als der Perser Hamam uns ausrotten wollte«, »Als wir die Zehn Gebote bekamen«.
    In Deutschland sagt man eher Dinge wie »Wir haben doch heute damit nichts mehr zu tun«, »Das ist schon so lange her« oder »Aber bitte sei pünktlich«. Deutsche leben zeitlich selektiv. Sie lieben es zu planen, sie sind stolz auf Deutschlands Tradition der Dichter und Denker. Aber was nicht gefällt, wird in die ferne Vergangenheit abgeschoben. Ganz nach dem Motto »Vorwärts immer, rückwärts nimmer« (Zitat Erich Honecker). Ein universelles Zeitgefühl, in dem immer alles präsent ist, gibt es nicht. Gleichzeitig ist die deutsche Zeit eine feste Zeit. Eine feststehende Größe, die auf all den tausend Uhren im Land immer weiter läuft, unabhängig von seinen Menschen.
    Israelis dagegen

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