Guten Morgen, Tel Aviv
besitzen ein universelles Zeitgefühl, in dem ihre 5771-jährige Geschichte allzeit präsent ist. Mehr noch, für sie ist Zeit nicht nur allumfassend, sondern relativ. Ob es Zeit gibt oder nicht, hängt immer von einer anderen Größe ab. Ein Israeli selbst wird nie das Gefühl haben, zu spät oder zu früh zu sein. Nur wenn der andere früher da war, kann er zu spät gewesen sein. Obwohl Israelis sehr hektisch sind und gerne so busy wie Amerikaner wären, sagen sie oft »jesch hasman«. Das bedeutet wortwörtlich »es gibt Zeit«. Wer die Zeit hat, für was wann und wo, wird selten genauer spezifiziert. Auch Pläne sind relativ. Man kann sich treffen, wenn a), b) oder c) eintrifft – oder auch nicht. Zeit taugt in Israel höchstens als Grund für eine der vielen kleinen, alltäglichen Revolutionen.
Denn Israelis lehnen sich gerne auf. Sie leben eine Streit- und Protestkultur. In diesem Jahr traf ihr Unmut die Winterzeit. Die ultraorthodoxen Israelis haben vor fünf Jahren durchgesetzt, dass bereits am Wochenende vor dem Feiertag Jom Kippur auf Winterzeit umgestellt wird. Zwar muss man dann trotzdem 25 Stunden fasten, aber es fällt etwas leichter, weil man gefühlt eine Stunde mehr schlafen kann. Oder so. Das Konzept ist für Nichtreligiöse etwas undurchsichtig. Da sich nun aber Jom Kippur nach dem jüdischen Kalender richtet, musste in diesem Jahr schon Mitte September auf Winterzeit umgestellt werden. Also mehr als einen Monat bevor Deutschland die Uhren zurückdreht.
Und weil bei 30 Grad eine Umstellung auf Winterzeit bekloppt ist, haben mehr als 100000 Israelis die frühe Winterzeit boykottiert. Das würde natürlich in Deutschland nicht gehen, denn das wäre das totale Chaos beim Pläneschmieden. In Israel jedoch ist Zeit wie gesagt relativ, es war also auch mit dem Boykott alles wie immer. Nur die 20-Uhr-Nachrichten haben die Revolutionäre vier Wochen lang verpasst. Aber die Damen und Herren vom israelischen Sender Channel 2, die die neuesten Ereignisse allabendlich todernst in die Linse sprechen, sind sowieso die Einzigen hier, die überhaupt ein Zeitgefühl haben, das mit dem deutschen vergleichbar ist. Auch sonst haben sie etwas hängende Mundwinkel.
Neben der deutschen und israelischen Interpretation von Zeit finde ich übrigens die japanische noch erwähnenswert. Freundin S., eine Halbjapanerin, die zwei Jahre lang in Tokio lebte, berichtete mir nämlich neulich Folgendes zum japanischen Zeitgefühl: In Tokio sind die öffentlichen Verkehrsmittel extrem pünktlich. Alles ist genau getimt. Wie lange brauchen die Menschen die U-Bahn-Treppe rauf? Wie lange stehen sie wo und wann muss daher was abfahren? Sollte es in dieser überkontrollierten Welt doch mal zu einer kleinen Verspätung von wenigen Minuten kommen, meldet sich der U-Bahn-Lokführer zu Wort und entschuldigt sich ergebenst dafür, dass er seinen Passagieren nun den »Tag zerstört hat«.
Und ich dachte, wir Deutschen wären extrem. Wahrscheinlich brauchen die Japaner dringend eine israelische Winterzeit.
Der Aberglaube
Neulich spuckte meine Hebräischlehrerin auf den Fußboden und schrie etwas, das wie »Hals und Angina« klang. Sie war sehr aufgebracht. Ihr Gesicht war zu einer angsterfüllten Fratze verzogen. Die vollen schwarzen Haare standen wild zu Berge. Was war geschehen? Wir hatten gerade die Vokabel »streuen« gelernt. Banknachbar L. aus Dänemark, ein wahnsinnig netter und sehr nordeuropäischer Typ, sollte einen Beispielsatz mit dem Wort bilden. Er sagte in langsamem, perfektem Doktoren-Hoch-Hebräisch: »Der Krebs hat gestreut.« Danach guckte er stolz in die Runde. Lehrerin N. spuckte und tobte. »Chas we chalila!« Gott behüte! Däne L. war völlig verdattert. Die Klasse schwieg geschockt.
Israelis sind abergläubisch. Tausend kleine Dinge kann man nicht tun, weil sie schlimme Konsequenzen nach sich ziehen. Aber vor allem kann man nicht über mögliche schlimme Dinge sprechen. Chas we chalila. Gott behüte. Das sagen die Israelis dann. Hebräischlehrerin N. sagt es mindestens einmal pro Kurs. Wir lernen die Vokabel »Herzinfarkt«. Chas we chalila. »Verletzen.« Chas we chalila. »Schlagen.« Chas we chalila. Fut, Fut, Fut. Sprach’s und spukte dreimal trocken auf den Boden rechts neben sich. Manchmal glaube ich, ich sitze nicht im Sprachkurs, sondern in einem Exorzismus-Seminar für Hexenwissenschaften. Ich warte auf den Tag, an dem Lehrerin N. einen Raben auf der Schulter trägt. Oder Frösche in einen großen Topf
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