Guten Morgen, Tel Aviv
Arbeitskräfte gibt, sowie in der Altenpflege. Die meist weiblichen Pflegerinnen sind die guten Geister des Landes. Tagsüber kann man überall in Tel Aviv Gruppen von älteren Herrschaften sehen, die Hand in Hand mit ihren philippinischen Betreuern langsam die Straßen entlangschlurfen.
Im Lewinsky-Park, dem sozialen Herz des Viertels Neve Sha’anan, sitzen abends Gruppen von dunkelhäutigen Männern, erzählen, essen und trinken. Viele, die hier die Straßen auf- und abtigern, könnten direkt aus Harlem eingeflogen sein. Sie laufen mit amerikanischem Rapper-Bling-Bling und USA -Ballsport-Klamotten durch den Nahen Osten. Auf mich wirken sie trotz großer Posen immer etwas verloren, sie sind wie die Gastarbeiter in Deutschland. Vielerorts unwillkommen und trotzdem wichtig für die Wirtschaft des Staates. Sie schicken monatlich Geld an ihre Familien zu Hause und wissen nicht, wann sie jemals zu ihnen zurückkehren können.
In Neve Sha’anan leben sie Tür an Tür mit Drogenabhängigen und Prostituierten, die erschöpft auf den Bordsteinen in den Nebenstraßen sitzen. Nicht selten kann man live erleben, wie Leute sich eine Spritze setzen. Die Gegend ist verroht und gerade deswegen so spannend. Richtung Südosten blickt man zum Stadtteil Tikwa, der jenseits der großen Brücke hinter dem Highway liegt. Richtung Westen liegt, nur einen kurzen Fußweg entfernt, der hippe Fashion-Stadtteil Gan Hahashmal. Ich glaube, bald wird das Modevolk sich weiter ausbreiten, und dann wird die Gentrifizierung auch in Neve Sha’anan das Stadtbild verändern.
Tel Aviv II: Vom Elektro-Garten bis zur Hochzeitsstraße – Der messianische Teil
In Gan Hahashmal (Elektro-Garten) sind einige israelische Topdesigner wie »Sharon Brunsher«, »Frau Blau« und »Collective 6940« zu Hause. Sie liegen Tür an Tür mit stylischen Bars und Restaurants. Die Atmosphäre ist unfertig und voller Modevolk. Andererseits ist das sogenannte Viertel so klein, dass man mit dem Roller in wenigen Sekunden durch ist. Westlich vom Elektro-Garten liegt das Studentenquartier Florentin. Hier kann man vor allem billig wohnen und trinken. In regelmäßigen Abständen finden wilde Straßenpartys statt, die fast immer von der Polizei aufgelöst werden. Florentin liegt zwischen der Herzl-Straße, die nach Süden hin immer dreckiger und unheimlicher wird, und einem der teuersten Stadtteile, Neve Zedek.
Neve Zedek ist wie ein eigenes kleines Dorf inmitten von Tel Aviv. Weil es so idyllisch und schön ist, walzen täglich Touristenscharen durch die kleinen Straßen, das tut aber meiner Begeisterung für die Ecke keinen Abbruch. Zwischen den südländischen, kleinen, toll restaurierten Häusern fühlt man sich wie in einem italienischen Dorf. Alles wirkt ganz friedlich und beschaulich. Nur wenn man ganz genau hinhört, sickert der Lärm der Stadt ein wenig durch. Kein Wunder, denn ganz in der Nähe liegt der Rothschild Boulevard. Die Straße, die wir auf unseren Roller-Touren immer mindestens einmal kreuzen.
Der Prachtboulevard ist nach dem Zionisten Baron Edmond James de Rothschild benannt und die tollste, wichtigste und teuerste Straße in Tel Aviv. Viele der Gebäude, die rechts und links hinter hohen Bäumen hervorlugen, sind Bauhaus-Bauten und gehören zum UNESCO -Weltkulturerbe der »White City« Tel Aviv. Außerdem ist der Rothschild Boulevard praktisch der Geburtsort Israels – hier verkündete David Ben Gurion 1948 Israels Unabhängigkeit. Passenderweise in einem Haus, das wie ein Bunker aussieht. Mit dem breiten grünen Mittelstreifen, der ausschließlich für Radfahrer und Fußgänger gedacht ist, lockt die Bauhaus-Straße genauso viele Fußgänger wie die Tayelet am Strand an.
Doch wir biegen ab und fahren Richtung Markt. Der Shuk Ha’ Carmel ist die Lebensader Tel Avivs. Hier wuselt sich die eh schon laute Stadt zu einem riesigen Lärmhaufen zusammen. Auf dem Platz am Eingang zum Marktgassenlabyrinth sitzt tagein, tagaus Jesus. Der ehemalige Normalo-Israeli behauptet, er sei seit einem Schlangenbiss der Messias, und schart ein paar Freunde auf seinem roten Samttuch um sich. Neben ihm sitzt seine dritte Frau (die dritte nur in diesem Jahr). Die anderen sind ihm abhandengekommen. Vor sich haben sie ein kleines Tweety-Kuscheltier aufgestellt. In seinem Plüsch-Königreich gibt es Gemüse, Kosmetik, Fleisch, Fisch, Brot, Spielzeug, Kleidung, Schmuck zu kaufen und nichts, was es nicht gibt. Der Markt ist eine völlig eigene Welt, mit eigenen Gesetzen, und
Weitere Kostenlose Bücher