Guten Morgen, Tel Aviv
kommt, wo selbst in Mitte manchmal straßenzügeweise keine Menschen gesichtet werden, können die überfüllten Straßen erschöpfend sein.
Das wirklich Faszinierende an dem kleinen Mittelmeer-Metropolis sind jedoch seine vielen Gesichter. Ich lebe jetzt fast ein Jahr hier, und immer wieder entdecke ich eine völlig neue Ecke. Und weil die Stadt so klein ist, sind diese Ecken manchmal nur wenige Meter voneinander entfernt. Meist erspähe ich die neuen Stadt-Gesichter auf Touren mit meinem Lebenssozius auf unserem Roller. An diesem Sabbat-Abend starten wir am Habima. Das berühmte Theater wurde und wird in den letzten Jahren aufwendig saniert. David Grossman und Amos Oz bezeichneten es einst als »Meilenstein der Wiederbelebung der hebräischen Sprache und Kultur sowie als maßgeblich die israelische Lebenskultur selbst beeinflussend«.
Vom bedeutenden Kulturzentrum aus düsen wir Richtung Allenby. Die als hässlichste Straße Tel Avivs bekannte Fahrbahn ist in Strandnähe von Strip-Clubs, Sexshops und zwielichtigen Touristenfallen und im Süden von Billig-Klamotten-Läden eingekesselt. Dazwischen befinden sich allerlei nicht identifizierbare Geschäfte, die allerlei Nichtidentifizierbares anbieten. Wir fahren Richtung Strand und kommen an die Promenade, die Tayelet, wie der gemusterte Asphaltstreifen von Israelis genannt wird. Bei Tag und am Abend eine lebendige Meile zum Spazieren, Joggen und Flanieren, ist die Tayelet nachts an der Ecke Allenby Anlaufstelle für Obdachlose und orientierungslose Jugendliche. Richtung Norden säumen klotzige 70er-Jahre-Hotelbauten ihren Weg, dort ist die Promenade eleganter und führt zum aufwendig sanierten Hafengelände voller Schickimicki-Clubs, Restaurants und Bars. Richtung Süden löst sich die Strandstraße langsam auf und passiert dabei grillende Großfamilien im Rasen an der Kaimauer.
Jaffa, der eher arabisch geprägte Teil von Tel Aviv, war mit seinem alten Hafen immer eines der meistumkämpften Gebiete in Israel. Ob Napoleon, Saladin oder Richard Löwenherz, sie alle hatten hier schon einmal die Macht. Auch heute wird in Jaffa ein Kampf ausgetragen. Angreifer sind die Immobilien-Napoleone. Immer mehr Luxusbauten werden in Jaffa hochgezogen, immer mehr wohlhabende jüdische Israelis entdecken das Viertel für sich. Dass die Yuppies die alten Einwohner vertreiben, läuft in jeder Großstadt so. In Jaffa sind die Yuppies aber meist Juden und die alten Einwohner Araber, und so bekommt die Gentrifizierung sofort einen politischen Touch.
Jaffa ist an vielen Stellen sehr viel schöner, als Tel Aviv es jemals sein könnte. Selbst der Stadtteil Ajami, der durch den ihm gewidmeten Film 2009 als Kriminalitäts- und Drogen-Favela bekannt wurde, ist (zumindest von den größeren Straßen aus gesehen) geprägt von tollen Häusern und schicken Restaurants. Nur wenn man in die dunklen Seitenstraßen schaut, sieht man grüppchenweise junge Männer zusammenstehen, die sich die Kapuzenpullis tief ins Gesicht gezogen haben. An Ajamis Hauptstraße Yefet sitzen Männer, die Backgammon spielen und Wasserpfeife rauchen. Frauen in Kopftuch und langen Gewändern kaufen hier auch Samstagabend ein, wenn im jüdischen Tel Aviv alles geschlossen hat.
Ich drehe mich auf dem Roller und blicke Richtung Süden. Dort leuchtet Bat Yam. Die Stadt wird mehrheitlich von russischen Einwanderern bewohnt, ganze Straßenzüge entlang sieht man hier nur kyrillische Buchstaben. Wir fahren aber Richtung Norden zurück nach Tel Aviv. Auf der Heinrich-Heine-Straße, die übrigens neben der Gazastraße liegt, geht es nach Neve Sha’anan, dem Stadtteil neben dem Busbahnhof. Hier leben vor allem Gastarbeiter und Flüchtlinge. Immigranten aus Eritrea, den Philippinen, Ghana, Indien, der Ukraine oder dem Sudan. Etwa 250000 gibt es davon in Israel, viele sind illegal, die meisten der afrikanischen Flüchtlinge sind Moslems und deswegen nicht besonders willkommen in Israel. Sie werden als Bedrohung für den jüdischen Charakter des Landes gesehen, dabei übernehmen sie in fast jeder Restaurantküche Jobs, die jüdische Israelis offensichtlich nicht übernehmen wollen. Immerhin können sie in Israel in Sicherheit leben, während viele andere Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Israel von ägyptischen Grenzkräften erschossen werden.
Die philippinischen Immigranten dagegen sind meist Christen (was sie ein wenig mehr willkommen macht) und arbeiten in den Kibbuzim in der Landwirtschaft, wo es kaum noch israelische
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