Guten Morgen, Tel Aviv
wo diese Frage herkommt. Viele Israelis können einfach nicht nachvollziehen, warum man als Europäer nach Israel kommt, wenn man keinen Bezug zum Judentum hat. Trotzdem. Mein ganzes Leben lang hat Religion keine Rolle gespielt. Ich bin doch aus dem Osten. Ich bin nicht getauft, meine Mutter ist es auch nicht. Mein Vater ist vor Jahrhunderten aus der Kirche ausgetreten. Meine Oma ging als Einzige in der Familie gelegentlich in ein Gotteshaus, aber ich weiß noch, wie ich das schon als Kind komisch fand. In der Pubertät hatte ich eine kurze Phase, in der ich das Vaterunser auswendig gelernt habe und allabendlich vor mich hin flüsterte. Aber wahrscheinlich wollte ich nur, dass dieser Junge aus der Zwölften mich endlich anguckt.
Religion ist für mich nicht mehr als ein Konzept gewesen. Doch seit meinem Umzug nach Israel ist alles anders. Eigentlich schon, seitdem ich vor fünf Jahren am Strand in Indien diesen schneidigen Israeli kennenlernte, der mir bei unserem vierten Date sagte: »Ich will, dass meine Kinder jüdisch sind. Das ist mir wichtig. Dafür brauchen sie eine jüdische Mutter. Das wärst dann du.« Seitdem hat sich das mit dem lockeren Verhältnis zu Religionen erledigt. Religion ist die Gretchenfrage geworden. Man verlangt ein Bekenntnis von mir. Denn selbst die unkoschersten Juden (und davon gibt es in Israel fast mehr als in der Diaspora) heiraten am Ende meistens eine Jüdin. Das nennen sie dann aber nicht Religion, sondern Tradition.
Für mich kommt es auf das Gleiche raus. Es ist eine Abgrenzung. Eigentlich ein Symbol dessen, was mich an Religionen stört. Dieses unerträgliche Cliquen-Denken. Doch wenn es nur so einfach wäre. Denn ich kann durchaus verstehen, warum es so ist. Das Judentum ist die kleinste der Weltreligionen (vor allem, weil es nie missioniert hat). Außerdem ist es die Weltreligion, die am meisten von allen verfolgt wurde und wird. Sie zu erhalten ist etwas über Generationen hinweg Erlerntes für ihre Angehörigen.
»Mein Rabbi sagte mir einmal: ›Du hast erst dann alles richtig gemacht, wenn auch deine Enkelkinder jüdisch sind‹«, hörte ich vor einigen Jahren eine ältere Dame in der Jüdischen Gemeinde in Berlin sagen. Ich war wütend. Was für ein Unsinn. Richtig gemacht hat sie es dann, wenn es gute Menschen sind. Man ist doch nicht richtig oder falsch, weil man Jude ist oder nicht. Diese ältere Dame hatte den Holocaust überlebt. Sie hat ihren Glauben durch alle menschlichen Abgründe gerettet. Wahrscheinlich will sie nicht, dass es umsonst war. Wahrscheinlich will sie nicht, dass das Judentum am Ende doch ausstirbt, weil zu wenige Mütter an den richtigen Gott glaubten.
Viele Israelis sind nicht besonders religiös. So tragen fast alle Tätowierungen, obwohl das nach jüdischem Glauben verboten ist. Sie essen Schwein und mischen Fleisch- und Milchprodukte. Sie scheren sich nicht um den Sabbat. Und fasten nicht an Jom Kippur. Aber sie müssen das auch nicht, denn sie sind als Juden geboren. Ich hingegen bin Heinrich Faust. Nicht Fisch, nicht Fleisch. Und schon gar nicht koscher.
Doch neulich wurde ich von einem Rabbi zum Äußersten getrieben und ließ mich zu der Notlüge hinreißen, dass ich Jüdin sei. Ich fand das unglaublich verwerflich und schämte mich im Nachhinein. Mein wunderbarer Lebensgefährte verstand die Sorge nicht. »Ach komm, eine kleine Notlüge«, sagte er. »Was fragen die auch immer so doof.« Ich hingegen fühle mich heute noch schlecht, wenn ich daran denke. Wahrscheinlich bin ich tief in mir drin schon längst päpstlicher als der Papst.
Tot und Meer
Ich liege hellwach bei 45 Grad um fünf Uhr morgens in einem kleinen Zelt am Toten Meer. Ein kleines Viereck im orangenfarbenen Polyester links über mir lässt gerade so etwas Luft herein. Ansonsten ist es stickig. Dazu surren Mücken um mein Ohr. Wir befinden uns 400 Meter unter dem Meeresspiegel im Jordangraben. Angeblich soll das hier das Wellnesszentrum von Israel sein. Der Ort, an den man fährt, um in einen Jungbrunnen zu tauchen und gut erholt mit weicher Babyhaut in sein anstrengendes Leben zurückzukehren. Die harte Augustsonne brennt auf unser Igludach, wir liegen wie die Flundern platt auf unseren Isomatten, Arm an Arm, Schweiß an Schweiß. Wären wir Blumen, würde uns dieses Treibhaus vielleicht guttun. Aber den Jungbrunnen für Menschen habe ich mir irgendwie anders vorgestellt.
An allem ist mein heute nicht ganz so wunderbarer Lebensfreund schuld. Er hätte wissen
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