Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Guten Morgen, Tel Aviv

Guten Morgen, Tel Aviv

Titel: Guten Morgen, Tel Aviv Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hoeftmann
Vom Netzwerk:
Anlass für diesen emotionalen Gefühlsausbruch war seine nicht funktionierende DSL -Leitung. Ein Techniker hatte morgens versucht, das Internet wieder zum Laufen zu bringen. Dabei hatte er J. »Achi« genannt. Das bedeutet wortwörtlich »mein Bruder«. J. war natürlich nicht wirklich glücklich darüber, sondern machte sich zynisch und brüskiert über diese unangemessene Vertrautheit her. Nicht jeder kann mit dem israelischen Informalismus gut umgehen. Vor allem für uns Einwanderer ist es zuweilen schwierig.
    Informalismus beschreibt eine weitverbreitete Charaktereigenschaft im Heiligen Land. Die Israelis mögen es informell. Allzu formelle Dinge hingegen liegen ihnen nicht, weder bei ihrer Kleidung noch im Verhalten. Sie sind gerne direkt, ehrlich und geradeheraus (ehrlich ist im Hebräischen das gleiche Wort wie geradeaus). Dabei sind umständliche Hierarchiestrukturen nur hinderlich. Dazu gesellt sich eine angeborene Skepsis gegenüber Autoritäten. Oder um das Kind beim Namen zu nennen: ein fehlender Respekt für alles und jeden. Nur weil jemand der Chef von ABC ist, heißt das noch lange nicht, dass ein Verkäufer ihn nicht genauso unfreundlich bedienen darf wie den Moshe von nebenan.
    Hierarchien sind hier nicht so etabliert wie in anderen Ländern, und klassische Eliten gibt es kaum. Während in Deutschland klare Strukturen der unterschiedlichen sozialen Schichten definierbar sind, wie Bürgertum (Klein-, Groß- und Bildungs-), Adel, Arbeiter etc., gibt es in Israel nur »Sabra« und »Olim«. Sabra sind diejenigen, die in Israel geboren sind. Olim sind die Neuzugänge. Und natürlich gibt es darüber hinaus Differenzen zwischen den Israelis, je nach Herkunftsland. Europäische Einwanderer (Aschkenasim) halten sich seit jeher für etwas Besseres als sephardische (aus Spanien eingewanderte) und orientalische (Mizrahim) Juden. Diese wiederum schauen auf äthiopische Juden herab (vielleicht weil sie noch dunkler sind). Und russische Juden sind sowieso außen vor. Genauso wie sämtliche nicht jüdische Subgesellschaften im Land.
    Aber dieses Herkunftsgerangel liegt den Menschen wohl im Blut, egal woher sie kommen. Meine Schwiegereltern in spe befeinden sich in der Formation Rumänien vs. Irak. (»Ihr seid doch Araber, ich bin Europäer« gegen »Wir hatten im Irak schon Schulen und Bildung, als ihr in Rumänien noch in euren unterentwickelten Dörfern Inzucht betrieben habt.«) Hier sind ja immerhin noch gewisse Unterschiede zu erkennen. Aber selbst meine Eltern, die wohlgemerkt aus der gleichen Stadt in Brandenburg kommen (!), schaffen es regelmäßig, Herkunftsschlachten zu schlagen. (»Wir besaßen immerhin ein Haus mit Grundstück, während ihr in eurer Karnickelbuchte mit Fischladen unten dran eingepfercht wart.« – »Ach so? Euer Großgrund stand, wenn ich mich recht erinnere, im Armenviertel. Und wenigstens mussten wir zum Urinieren nicht auf den Hof.«)
    Davon abgesehen gibt es jedoch in Israel kein klassisches Schichtendenken. Die meisten hier sind mit leeren Taschen ins Land gekommen, selbst Promovierte und Ärzte haben anfangs in der Landwirtschaft gearbeitet und das Land mit aufgebaut. Nur ganz wenige Familien können, wenn überhaupt, als elitär bezeichnet werden. Das sind dann entweder die Neureichen oder die paar Familien mit überdurchschnittlicher Bildungsdichte. Und auch dann merkt man es kaum. Denn auch sie pflegen den Informalismus mit Hingabe.
    Neulich habe ich das erste Mal versucht, auch informell zu sein. Die wenig freundliche Verkäuferin bei Zara wollte mir partout kein Geld zurückgeben, sondern nur einen Gutschein (der im Übrigen natürlich nur in Israel gilt). Ich überwand meine Abneigung, mein dringendes Bedürfnis, sie anzuschreien oder formell-reserviert zu sein. Stattdessen legte ich beruhigend und vertraut meine Hand auf ihren Arm und säuselte lächelnd: »Schau mal, Süße, ich fahre jetzt nach Berlin. Zum Shoppen und so. Da brauch ich das Bargeld eher als einen Gutschein in Israel.« Ich fühlte mich wie falsche Zähne. Sie blinzelte nicht einmal, als sie Nein sagte, sich umdrehte und verschwand.

Das Spielmannszug-Syndrom
    Vor einigen Wochen stand ich auf dem Berliner Alexanderplatz und heulte. Vor mir marschierte ein Spielmannszug. Die Spielleute flöteten und trommelten. Ich schluchzte im Takt zum Radetzkymarsch. Wie war es dazu nur gekommen?
    Alles begann, als der Sommer in Tel Aviv immer heißer wurde. Ich hatte die ersten sechs Monate im neuen Land hinter mir

Weitere Kostenlose Bücher